„Im Westen nichts Neues“ holt neun Oscar-Nominierungen nach Deutschland - und ein bisschen auch nach Köln. Am Ende wird es wohl nur einen Trostpreis geben.
Zeitenwende für den deutschen Film?„Im Westen nichts Neues“ für neun Oscars nominiert
Alljährlich werden die Oscars, immer noch der populärste Unterhaltungspreis der Welt, von den Mitgliedern einer erstaunlich altehrwürdig klingenden Institution vergeben: die Academy of Motion Picture Arts and Sciences. In ihr sind Schauspieler, Regisseure und die weniger bekannten Gewerke der Filmindustrie organisiert, die, man wäre sonst vielleicht geneigt, es zu vergessen, ihre Wurzeln in den modernen Naturwissenschaften und einer Vielzahl von (überwiegend) älteren Künsten hat.
Eine populäre Wissenschaft ist auch die Vorhersage von Oscar-Nominierungen und Oscar-Auszeichnungen. Exakt mag man diese schon deswegen nicht nennen, weil sie die wankelmütige Psyche einer größeren Menschengruppe untersucht, den etwa 10.000 Mitgliedern der Academy. Vieles lässt sich im Vorfeld der Oscar-Saison zwar aus den Preisen ableiten, die die einzelnen Gewerke in den eigenen Reihen verleihen, und die Unsummen, die im Februar für Werbung ausgegeben werden, lassen immerhin Rückschlüsse darauf zu, welcher Produzent sich gute Chancen für seine Kandidaten ausrechnet. Aber letztendlich ist die Oscar-Wahl eben doch ein Beliebtheitswettbewerb.
Neun Nominierungen für die deutsche Netflix-Produktion
In diesen Wettbewerb geht dieses Jahr ein deutscher Film in aussichtsreicher Position ins Rennen – die Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“ erhielt neun Nominierungen, die zweitmeisten im Wettbewerb, darunter als bester Film und als bester „internationaler“, sprich ausländischer Film. Volker Bertelmann, Komponist der Filmmusik, darf sich nach den Nominierungen ebenso Hoffnungen auf einen Oscar machen wie die Make-Up-Künstlerinnen Heike Merker und Linda Eisenhamerová, Produktionsdesigner Christian M. Goldbeck sowie der britische Kameramann James Friend.
Edward Berger ging zwar in der Regiekategorie leer aus, wurde aber als einer von drei Autoren des adaptierten Drehbuches bedacht; „Im Westen nichts Neues“ basiert auf dem gleichnamigen Antikriegsroman von Erich Maria Remarque und schildert die Gräuel in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs.
Obwohl „Im Westen nichts Neues“ ein deutscher Erfolgsroman aus dem Jahr 1928 ist (der seit 2014 im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheint) und Remarque die Geschichte aus deutscher Perspektive erzählt, gab es bislang lediglich zwei englischsprachige Verfilmungen des Stoffs; die erste, „All Quiet On the Western Front“ von Lewis Milestone, erhielt 1931 den Oscar als bester Film.
Sollte Edward Bergers Adaption diesen Erfolg wiederholen, würde Malte Grunert als Produzent die Trophäe entgegennehmen. Aber auch Daniel Brühl dürfte sich mitgemeint fühlen; der in Köln aufgewachsene Schauspieler und Regisseur ist in einer Nebenrolle zu sehen und wird im Abspann als ausführender Produzent genannt.
Die neun Nominierungen für „Im Westen nichts Neues“ folgen im Wesentlichen der Vorhersage des US-amerikanischen Branchendienstes „Variety“ und waren nach den sensationellen 14 Nominierungen für den britischen Filmpreis Bafta keine Überraschung mehr. Sollte „Variety“ allerdings auch mit seinen Oscar-Gewinnern richtig liegen, dürfte im deutschen Lager auf den Überschwang der Nominierungen eine gewisse Ernüchterung folgen; für die Oscar-Verleihung am 12. März prognostiziert „Variety“ lediglich eine Trophäe für den besten internationalen Film. Es wäre ein Trostpreis, insbesondere für den Streaming-Dienst Netflix, der seine globale Marktmacht bislang nicht in den entsprechenden Einfluss auf Hollywood und die Filmakademie ummünzen konnte.
Als großer Oscar-Favorit geht „Everything Everywhere All at Once“ mit elf Nominierungen ins Rennen. Das Fantasy-Drama von Dan Kwan und Daniel Scheinert handelt von einer Waschsalon-Besitzerin, die sich tagträumend durch ein Paralleluniversum prügelt und dabei die Beziehung zu ihrer entfremdeten Tochter repariert; er startete in den USA mit wenigen Kopien und entwickelte sich zu einem überraschenden Erfolg bei Kritikern und Publikum. Insbesondere die Oscars für Hauptdarstellerin Michelle Yeoh und Nebendarsteller Ke Huy Quan dürften sichere Wetten sein – auch wenn Ke Huy Quan in Brendan Gleeson („The Banshees of Inisherin“) einen würdigen Herausforderer hat.
Gespannt darf man sein, ob Steven Spielberg für sein autobiografisch gefärbtes Familiendrama „Die Fabelmans“ einen dritten Regie-Oscar erhält und ob „Variety“ beim besten Film richtig liegt und tatsächlich Tom Cruise für „Top Gun: Maverick“ den Preis davonträgt. Als aussichtsreichste Kandidaten in den Hauptdarsteller-Kategorien gelten Cate Blanchett („Tár“) und „Elvis“-Double Austin Butler, dessen Triumph als königliche Travestiefigur am ehesten Colin Farrell („The Banshees of Inisherin“) im Weg stehen könnte.
Abgesehen von der Würdigung persönlicher Verdienste sind die Academy Awards seit jeher ein Stimmungsbarometer der wichtigsten Filmindustrie der Welt – teils geldwerte Selbstinszenierung, teils Selbstverständigung im Medium einer Preisverleihung. An den sinkenden Einschaltquoten konnten die Mitglieder der Filmakademie zuletzt den eigenen Bedeutungsverlust ablesen, das einst übermächtig scheinende Hollywood spürt die Konkurrenz von Streaming-Anbietern und Computerspiel-Herstellern. „Everything Everywhere All at Once“ wäre der passende Siegerfilm für eine Industrie, die von der Wirklichkeitsflucht zehrt wie keine andere.