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Premiere am Schauspiel Köln„Dass die Leute hungern, ist politisch gewollt“

Lesezeit 4 Minuten

Regisseur Rafael Sanchez (l.) und Schauspieler Séan McDonagh

Köln – Auf seinem Handy, erzählt Rafael Sanchez, Hausregisseur am Schauspiel Köln, habe er eine Liste mit Stoffen, die er schon immer mal machen wollte. Und John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ stehe da seit mehr als zehn Jahren darauf. Warum?

„Wegen der letzten, gigantischen Szene, die Steinbeck fast nicht bei seinen Verlegern durchbekommen hatte: Das Mädchen, das gerade sein Kind verloren hat, gibt einem alten, verhungernden Mann die Brust. Das finde ich sehr berührend.“

Am Sonntag feiert Sanchez’ Inszenierung des amerikanischen Klassikers über arme Farmer aus Oklahoma, die während der Großen Depression gen Kalifornien ziehen im Depot 2 Premiere. Ohne Publikum, dafür im Live-Stream. Deprimierend ist auch die Aktualität des Stoffes. Sieht man vom Zeitkolorit ab, sagt Sanchez, könnte die Geschichte jetzt stattfinden: „Von der absoluten Macht der Banken und Konzerne, bis hin zu den Farmen, die aufgekauft werden und den großen Baumwollplantagen, die alles killen.“

Blaupause des Hungerns

Daraus, dass Arm und Reich heute nur noch weiter auseinanderdriften als in den 1930er Jahren, lasse sich, so der Regisseur, eigentlich nur ein Schluss ziehen: „Es ist politisch gewollt, dass die Leute hungern.“

Was zu Zeiten des Dust Bowls in Nordamerika passiert ist, ist wie eine Blaupause. „Damals waren es 500 000 Okies, die die Route 66 heruntergewandert sind, heute sind Millionen auf Wanderschaft.“

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Um so wichtiger sei es dann allerdings, dass weder die Inszenierung ins Predigen verfalle, noch der Stoff zwangsaktualisiert werde, sagt Séan McDonagh. Er spielt Tom Joad, den Hauptprotagonisten des Romans. „Gerade weil der Stoff so offensichtlich aktuell ist, wäre es viel zu klein gedacht, etwa Videoprojektionen von den griechischen Inseln zu verwenden. Es gibt so viele Fälle in so vielen Bereichen der Welt, in denen zur Zeit Flüchtlinge unterwegs sind. Würde man da einen Fall benennen, schlösse man die anderen nur aus. Der Mehrwert ergibt sich, wenn man die Geschichte da belässt, wo sie spielt.“

Wie nah lag ihm die Figur des Tom Joad, der seine Familie durch etliche Mühsale führt und am Ende des Buches etwas beinahe Erlöserhaftes bekommt? „An dieses Erlösermäßige habe ich am wenigsten gedacht. Was mir als erstes ins Auge fiel, war der Pragmatismus der Figur. Ich habe mich gefragt, welcher Schlag Mensch schafft diese Tortur, ohne körperlich beeinträchtigt zu werden? Was ist das für ein Mensch, der hier nicht durchdreht? Sondern einen kühlen Kopf bewahrt?“

Spielen für den Stream

Jetzt, da die Inszenierung vorerst nur gestreamt werden kann, sollen drei Kameras die Zuschauer an den Endgeräten mitten ins Bühnengeschehen versetzen. Ob das auch etwas an der Art zu spielen verändern wird? „Auf jeden Fall“, glaubt McDonagh. „Zum Glück setzt der Stoff eh keine expressive Spielweise voraus, eher so einen amerikanischen Filmrealismus wie bei »Tod eines Handlungsreisenden«. Rafael Sanchez hat schon am Anfang der Proben gesagt, spielt mal alle so, als ob da ein Close-up drauf wäre. Der Mehrwert ist, dass man Gesichter besser sieht, Intensitäten viel besser sehen kann.“

Zu den Kameras kommen als Hürde noch die Abstandsregeln. Margot Gödros, sie spielt die Großmutter der Familie Joad, hat die 80 bereits überschritten, „da dürfen wir uns einfach keinen einzigen Ausrutscher leisten“, sagt Sanchez. „Ich hatte am Anfang eine große Klappe wegen der Abstände und habe gesagt: Einschränkungen sind immer gut. Kann man halt mal nicht knutschen. Aber tatsächlich ist es ganz schön heftig.“

Auf engstem Raum

Das erste, was einem bei „Früchte des Zorns“ in den Kopf komme, ergänzt McDonagh, sei schließlich die Enge. „Das ist ja kein Stück, dass von Vereinzelung und Isolation erzählt, sondern vom genauen Gegenteil, der Überforderung, wenn man auf engstem Raum zusammen klarkommen muss.“

So ähnlich mag es auch dem Ensemble gehen. Bei der „Hermannsschlacht“, einer der ersten Produktionen der aktuellen Spielzeit, erzählt McDonagh, wäre immer ein Mitarbeiter mit einem Stock zugegen gewesen, der den Akteuren immer wieder aufzeigte, was 1,50 Meter Abstand bedeuten.

Zurück zum Inhalt: Wie hat sich nach acht Wochen Proben die Sicht auf den Roman verändert? Als Leser, sagt Rafael Sanchez, habe er sich den Figuren viel näher gefühlt, „jetzt interessiert mich das große Ganze, das Parabelhafte der Erzählung, ich schaue als Regisseur distanzierter darauf“. Séan McDonagh hat als Schauspieler die umgekehrte Erfahrung gemacht: „Je länger ich mich mit dem Stoff beschäftige, umso plastischer und berührender werden die Figuren für mich.“

„Früchte des Zorns“ feiert am 20. Dezember ab 17 Uhr Premiere. Tickets von 1 bis 100 Euro (Pay what you want) für den Live-Stream gibt es unter:

www.schauspiel.koeln