Die Mafiaserie „Die Sopranos“ war vor einem Vierteljahrhundert ein Gamechanger, es begann der Boom des Qualitätsfernsehens. James Gandolfini spielte sich als therapiebedürftiger Mobster in die Herzen eines Millionenpublikums. Ausgerechnet Mafiafilm-Meister Martin Scorsese blieb unbeeindruckt.
Von Enden und EntenVor 25 Jahren hievten „The Sopranos“ das Fernsehen auf ein neues Niveau
Leckere Zwiebelringe hat Tony im Diner mit den roten Kunstlederbänken für die Familie bestellt. Tochter Meadow ist noch nicht da, sie braucht draußen – Himmel hilf – wieder mal eine Trillion Versuche, ihr Auto einzuparken. Es soll ein schöner Abend werden, auch für den dauerdeprimierten Sohn Anthony Junior, der neuerdings allen Ernstes zum Militär will, um „Hubschrauberpilot für Donald Trump“ zu werden. Die letzte der 86 Folgen von „Die Sopranos“, die zweite, die Serienerfinder David Chase selbst drehte, brach an dieser Stelle ab. Einfach so. The End – mittenmang. Echt jetzt?
Als die Serie „Die Sopranos“ 2007 endete, war die Fernsehwelt eine andere geworden. Serien waren jetzt heiß, hatten das statische „Eine Folge, eine Geschichte“-Format auf breiter Front verlassen. Erzählten episch von Totengräbern („Six Feet Under“), Polizisten („The Wire“), Revolverhelden („Deadwood“) und antiken Verschwörern („Rom“). Kiefer Sutherland war in der Echtzeitserie „24″ ein Agent im Antiterrorkampf, das Remake von „Battlestar Galactica“ war humptatausend mal besser als das Original. Und in „Dexter“ mordete ein sympathischer Serienmörder tatsächlich quietschvergnügt Serienmörder.
„Die Sopranos“ standen am Anfang des Booms der großen Serien
Dank der „Sopranos“ holte man sich inzwischen DVD-Boxen ins Haus und schrubbte in durchwachten Nächten ganze Staffeln in Rekordzeit herunter – was geschäftstüchtige Leute auf die Idee brachte, Streamingdienste zu gründen. Hollywoodstars entdeckten das zuvor von ihnen verschmähte Fernsehen. Wäre in den „Sopranos“-Jahren die Covid-Pandemie ausgebrochen, das Kino wäre so was von erledigt gewesen.
Ein TV-Gesellschaftsroman aus der blutigen Unterwelt
Als „Die Sopranos“ 1999 loslegten, hatte es solche Storys, solche Bilder, solche Budgets (2 Millionen Dollar pro Episode) noch nicht gegeben. Fernsehen war brav und medioker, Einschlafpille ohne Nebenwirkungen. David Lynchs Mysterythriller „Twin Peaks“ (1990) überragte wie ein Leuchtturm die ganzen Neunzigerjahre, deren Hits „Emergency Room“, „Akte X“, „Friends“ und „Ally McBeal“ hießen.
Dann kam da dieser prustende Zweieinhalbzentnertyp James Gandolfini, ein bulliger Neuzeit-Al-Capone, und erzählte uns Zuschauerinnen und Zuschauern (respektive seiner von Lorraine Bracco gespielten Psychiaterin) einen großen Gesellschaftsroman aus der blutigen Unterwelt. Mafia traf Popkultur – wie es das seit Francis Ford Coppolas „Der Pate“-Filmen nicht mehr gegeben hatte.
Gandolfini litt unter den allzu harten Gewaltszenen
Weil Gandolfini echt war, seine Entourage auch, man als dem Gangstertum fern stehende Sofakartoffel diese Typen samt ihrer Konflikte (nicht ihre Lösungsmethoden) und Sprache für authentisch hielt. Jede Staffel brach den „Fuck!“-Rekord. Der 2013 viel zu früh gestorbene Gandolfini, den die Serie zum Star machte, litt unter den zuweilen allzu harten Gewaltszenen, schwor in seinen seltenen Interviews, dass er privat das genaue Gegenteil dieses eruptiven Typs sei. Den und dessen Leben, Lieben, Familie und Feinde mit all ihren Intrigen und Lebenslügen die ganze Welt suchtete.
Nur Mafia-Großinszenierer Martin Scorsese suchtete nicht mit. Ein paar Folgen habe er gesehen, sei aber mit dem dort gezeigten Gangstertum nicht so recht warm geworden. Diese zwischen hart und labil schwankenden Schurken waren nicht aus demselben Holz geschnitzt wie seine Killer aus der guten alten Zeit.
Soprano und seine Mafiosi vermissten den Glamour
Auch die Mafiosi um Tony Soprano vermissten diesen Glamour, empfanden sich als zu spät Gekommene. Sie stritten zwischen Gläubigerverdreschen und Restaurantabfackeln darum, ob der zweite „Pate“-Film besser sei als der erste und wo man wohl Scorseses „GoodFellas“ einordnen müsse. Diskutierten während einer Leichenentsorgung über das Schicksal des Schurken Luca Brasi im ersten „Der Pate“-Film.
Und fühlten sich nach vollbrachter Bluttat wie Hollywoods frühe Gangstergarde – Humphrey Bogart, James Cagney, Edward G. Robinson. Ein dunkler Humor war das zweite Standbein dieser Serie, die immer noch in diversen Top-10-Listen als „beste aller Zeiten“ geführt wird – wetteifernd mit „The Wire“ (2002–2008) und „Breaking Bad“ (2008–2013).
Der harte Gangster vermisst eine Entenfamilie
Und die praktisch auf demselben Gag beruht wie Harold Ramis’ Komödie „Reine Nervensache“ mit Robert De Niro, die ebenfalls 1999 startete: Kommt ein Mafiaboss zur Therapie … Tony Soprano muss einen Nervenzusammenbruch aufarbeiten. Auch er wird von dem Gedanken geplagt, dass früher alles besser war. Damals habe es einen Schweigekodex gegeben. Heute hingegen „gibt es keine Werte mehr. Jeder wird zum Kronzeugen.“
In die Enten, die in seinem Swimmingpool eine Familie gegründet haben, hat er sich vernarrt wie ein unschuldiges Kind. Als die Jungvögel dann flügge werden und abschwirren, verkraftet der Don von New Jersey den Verlust nicht und kollabiert am Würstchengrill.
Steven van Zandt hatte Geschmack am Verbrechen gefunden
Camorra, Knarren und Komik führte Steven Van Zandt, im Hauptberuf Gitarrist von Bruce Springsteens E-Street-Band und bei den „Sopranos“ der Consigliere Silvio Dante, später in der norwegisch-amerikanischen Crimedy „Lillyhammer“ weiter – der Serie, mit der Netflix 2011 begann, exklusiven Content zu liefern.
Der „New York Times“ war die Fortführung der „Sopranos“-Idee mit anderen Figuren zu flach. Der „Hollywood Reporter“ sah Potenzial, in Deutschland scheiterte die Serie an einer brachialen Synchronisation. Van Zandt war diesmal der Verräter Frank, ein Kronzeuge in norwegischer Deckung – man hört Tony Soprano förmlich seufzen.
Mit dem Siegeszug der Serie ging der Aufstieg der Autoren einher
David Chase war der Macher des Wunders „Sopranos“. Regisseurinnen und Regisseure waren ab da nur noch zweite Geigen, die Erfüller der Vision des eigentlichen Schöpfers, des Showrunners. Mit „Die Sopranos“ begann das Heimkino der Autoren, stieg auch im Kino, dem Chase so nahe wie irgend möglich kommen wollte, endlich das Ansehen und die Bedeutung der Schreibenden.
Fernsehen war jetzt nicht mehr die Nulpe der visuellen Künste, sondern ihr wahrer Tulipan. Zehn Stunden Erzählzeit pro Staffel, da waren Dinge möglich, von denen die Kinoleute nur träumen konnten. Und diese neuen Träume von überüberübergroßen Bildern wurden auch bald erfüllt. „Game of Thrones“ (2011–2019), das Drachenfest, das drei Jahre nach dem Ende von „Die Sopranos“ die nächste TV-Stufe zündete, würde man bis auf den heutigen Tag gern mal komplett auf der Gigaleinwand sehen wollen.
Auf die „Sopranos“ folgten zahllose Mafiaserien
Das Erbe der „Sopranos“ wirkt bis heute. Zuvor waren als namhafte Mafiaserien nur „Die Unbestechlichen“ (1959–1963, 1987 von Brian DePalma fürs Kino neu aufgelegt) und die zehn Staffeln des italienischen Polizeidramas „Allein gegen die Mafia“ (1984–2001) zu nennen. Danach kam die Prohibitionssaga „Boardwalk Empire“ mit Steve Buscemi als Nucky Thompson, dem mafiösen Kämmerer von Atlantic County. Die Auftaktfolge inszenierte der inzwischen mit dem Fernsehen sympathisierende Scorsese.
Und bis heute sprudeln die Mobsterserien nur so – ob es mit „Narcos“ und seinen Ablegern oder mit (ab 25. Januar) „Griselda“ in die Welt lateinamerikanischer Drogenkartelle geht oder mit „4 Blocks“ in die Familienclans von Berlin-Neukölln. Der „Antihero“ ist seit „Die Sopranos“ auch im Fernsehen der interessantere Held, was Kevin Costner als mobsterhafter Rancher John Dutton im Neowestern „Yellowstone“ (seit 2018) eindrucksvoll bestätigt.
Man kann den schwarzen Moment im Kopf vollenden
Die eingangs erwähnte letzte Szene von „Die Sopranos“ war nur auf den ersten Blick harmlos. Denn da waren natürlich diese Typen gewesen, die das Diner betreten hatten, die einem seltsam vorkamen, weil sie irgendwie scheel blickten, weil die Kamera eine Sekunde zu lange auf sie gehalten hatte. Und weil sie auch Tony Soprano für verdächtig hielt, der sie mit der Witterung eines Überlebenskünstlers unmerklich aus den Augenwinkeln taxierte. Was dann noch passiert ist? Schießerei? Tragödie?
Schwarz stattdessen der Bildschirm und stumm. Nichts sonst mehr, nur der übliche Abspann. Ein unverschämt grußloses und doch geniales Ende (nein, gemach, das ist jetzt kein Spoiler, das Wissen um das Ende ist so verbreitet und ausdiskutiert wie King Kongs Sturz vom Empire State Building oder Moby Dicks finale Konfrontation mit Käpt’n Ahab). Ob Tony, Carmela, Meadow und Anthony Junior glücklich bis an ihr spätes Ende leben dürfen oder auf diesen Kunstledersitzen sterben mussten, werden wir nie erfahren. Der Vorhang fiel – weil alles erzählt war.
Gandolfini musste eine Nacht über dieses Ende schlafen. Danach kam er zu dem Schluss: „Das ist perfekt.“
Und wer die „Sopranos“ nicht kennt und hinter dem Label „moderner Klassiker“ Angestaubtes befürchtet: Reinschauen lohnt sich. Die Serie wirkt, als sei sie gerade eben gedreht worden.
„Die Sopranos“, sechs Staffeln, 86 Episoden, von David Chase, mit James Gandolfini, Lorraine Bracco, Edie Falco, Steven Van Zandt, Michael Imperioli, Robert Iler, Tony Sirico, Jamie-Lynn Sigler, Dominic Chianese (erhältlich auf DVD und Blu-Ray, streambar bei Wow)