Köln – Wenn eine Million Menschen gleichzeitig an einem Bild malen, kommt eher nicht die „Mona Lisa“ dabei heraus. Oder eben doch, ganz klein als Teil eines riesigen, heiß umkämpften Wimmelbilds.
Am 31. März 2017 stellte Reddit, die Online-Plattform, die sich selbst halbironisch als „Titelblatt des Internets“ bezeichnet, das erste Mal eine leere, aus 1000 mal 1000 Pixeln bestehende Fläche online. Die Regeln dazu waren denkbar einfach: Jeder der 250 Millionen registrierten Nutzer durfte alle fünf Minuten genau ein Pixel mit einer von 16 zur Auswahl stehenden Farben füllen. „Allein kannst Du etwas schaffen“, hieß es dazu. „Zusammen schafft ihr etwas mehr.“
Der Aprilscherz war in Wahrheit ein soziales Experiment
Josh Wardle von Reddit hatte das Ganze als Aprilscherz angekündigt, aber das war nur Tarnung. In Wahrheit war Place, so der Titel des Projekts, ein soziales Verhaltensexperiment im Internet, also dem Medium, das man auch als größtes soziales Experiment in der Geschichte der Menschheit bezeichnen könnte. Am Anfang ähnelte Place einer frisch geweißten Toilettenwand, auf der sich gelangweilte Schulschwänzer als Komiker versuchten. Aber sobald sich die Nutzer zu organisieren begannen, änderte sich das Bild: Einzelne Gruppen suchten sich freie Flächen, um sie gemeinsam mit ihrem Motiv zu füllen: eine Nationalfahne, Leonardos „Mona Lisa“ – oder der Kölner Dom.
Schon bald reichte die Leinwand nicht mehr für alle, und so begannen die Verteilungskämpfe um einzelne Territorien. Man konnte dabei zusehen, wie sich eine Deutschlandfahne raupenartig durch eine französische Trikolore fraß, was wiederum andere Nutzer dazu animierte, Friedenstruppen in Form der Europafahne ins pixelige Feld zu führen. Es gab anarchistische Kommandos, die alles schwarz färbten, Nostalgiker, die ein blaues Fleckchen aus der Frühzeit von Place verteidigten und unzählige Subkulturen, die ihre jeweilige Ikone als Teil eines virtuellen Weltkulturerbes verewigen wollten. Als die Organisatoren nach 72 Stunden das Experiment beendeten, war Place einerseits zu einem bunten Chaos aus Motiven der Populärkultur mutiert. Aber vor allem war es ein faszinierendes Abbild des menschlichen Sozialverhaltens – im Internet und überhaupt.
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Jetzt gibt es die zweite Auflage von Place, entstanden nach denselben Regeln, und wieder ist es ein aufschlussreicher Ameisenhaufen aus Bildmotiven. Wir sehen Gemälde, Wappen, Memes, nach langem Suchen abermals den Kölner Dom, dazu Namen und Sprüche und die Mona Lisa eingerahmt von einem lachenden Piraten und der Trickfilmfigur Bojack Horseman. Aber beinahe alles, was sich der Place-Version von 2017 ablesen ließ, erscheint mittlerweile in einem anderen, etwas düsterem Licht: das Nebeneinander vieler Kulturen als Fragmentierung der Gesellschaft; die spielerische Aufteilung in Freund und Feind als erbitterter Kulturkampf; und ja, selbst bei der spontanen Fähigkeit, Gemeinschaften zu bilden, denken wir heute eher an Internetmobs und digitale Ausschlussverfahren als an funktionierende Verständigung.
Aber auch wenn die Utopien des Internets an Glanz verloren haben, zeigt Place weiterhin ein fröhliches Bild der Online-Welt. Die digitale Leinwand ist bunt, voller Leben und weitgehend unkommerziell – kein Vergleich zur wuseligen Pixelsammlung des Internet-Künstlers Beeples, die kürzlich für 69 Millionen Dollar versteigert wurde. Man fragt sich, welche Mühen etwa die Rembrandt-Gruppe auf sich genommen hat, um die berühmte „Nachtwache“ Punkt für Punkt auf Place zu rekonstruieren – wobei man auch hier den Einsatz automatisierter Farbpinsel-Bots nicht ganz ausschließen kann.
Sex, Krieg und Gewalt sucht man auf Reddit Place beinahe vergeblich
Es versteht sich beinahe von selbst, dass Place kein Spielplatz des Neuen ist. Schließlich ist es leichter, sich als Gemeinschaft auf etwas zu einigen, was es bereits gibt, als gemeinsam etwas Noch-Nie-Dagewesenes zu ersinnen. Andererseits: Wer kann dies wirklich beurteilen angesichts des heilvollen Durcheinanders, wer kennt sich noch aus im Sammelsurium der identitätsstiftenden Motive? Überlassen wir diese Aufgabe den Analyse-Werkzeugen der Reddit-Programmierer. Immerhin fällt bereits dem menschlichen Auge auf, dass Nationalfahnen 2022 etwas weniger prominent vertreten sind als vor fünf Jahren. Zumindest auf Place scheint sich der Nationalismus zurückzuziehen.
Bei der Premiere suchte man Sex, Krieg und Gewalt auf Place beinahe vergeblich, und das ist jetzt wieder so. Es ist allerdings nicht ganz klar, inwiefern dies an der pazifistischen Schwarmintelligenz der Reddit-User liegt oder zumindest teilweise an zensierenden Eingriffen von Moderatoren. Wie die analoge Welt ist auch Place kein Platz absoluter Freiheit, die Leinwand ähnelt eher dem biblischen Turm zu Babel. Wie dieser ist sie ein gigantisches Massiv, in dessen Schatten wir uns verwundert fragen, warum wir einander nicht verstehen. Alles könnte viel einfacher sein, wenn Bilder unser Esperanto wären.