Robert Menasse über die Zukunft der EU„Wir können jetzt in Europa keine Feiglinge gebrauchen“

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Robert Menasse kommt nach Köln zur phil.Cologne

Robert Menasse kommt nach Köln zur phil.Cologne

Robert Menasse kommt zur phil. Cologne und spricht vorab in unserem großen Interview über seine Ideen für die Zukunft der EU.

Robert Menasse, das europäische Thema treibt sie schon sehr lange um. Wie hat diese Faszination für einen politisch vereinten Kontinent angefangen?

Ich bin Romancier und der Roman als Gattung ist Zeitgenossenschaft in Erzählung gefasst. Dazu muss man versuchen, seine Zeitgenossenschaft auch zu verstehen. Mir ist klar geworden, dass die Rahmenbedingungen unseres Lebens heute nicht unwesentlich von der Entwicklung der Europäischen Union und der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts in der EU geprägt sind. Ich wollte verstehen, wie das funktioniert. Deshalb bin ich nach Brüssel gegangen. Ich habe damals eine eher metaphorische Vorstellung gehabt. Ich dachte mir, in Brüssel, steht eine riesige Fabrikhalle, in der wird meine Realität produziert, und ich gehe jetzt in diese Fabrik hinein und schaue mir an, wie die das machen. Die Faszination ist dann immer größer geworden – und auch die Wut darüber, wie wenige Menschen verstehen wollen, wie wenige begreifen, welche Bedeutung das für sie hat. Und wie billig es ist, ein Ressentiment gegen die Europäische Union zu schüren.

Nach Ihrem Roman „Die Hauptstadt“ wurden Sie selbst fälschlicherweise als scharfer Kritiker der Europäischen Union dargestellt.

Ich kann mich über den Erfolg nicht beklagen, aber es gab zwei Missverständnisse, die mich geärgert haben. Das eine Missverständnis war, dass der Roman eine Kritik an der EU im negativen Sinne sei, das andere, dass es sich um eine Satire handele. Ich finde, man kann die Idee des sich einigenden, friedlichen Europas hochschätzen und muss trotzdem Dinge, die schief laufen oder bedenklich sind oder nicht funktionieren, kritisieren. Sonst gibt es keine Entwicklung.

Und warum ist „Die Hauptstadt“ keine Satire?

Es gibt tatsächlich sehr viele Momente im europäischen Gefüge, die etwas Komisches haben, eigentlich etwas Tragikomisches. Wenn ich das erzähle, liegt die Satire aber nicht beim Erzähler, sondern beim Erzählten.

Es gibt tatsächlich sehr viele Momente im europäischen Gefüge, die etwas Komisches haben, eigentlich etwas Tragikomisches
Robert Menasse

Jetzt haben Sie einen Essayband mit Ihren Visionen für ein neues Europa veröffentlicht, dessen Titel „Die Welt von morgen“ Stefan Zweigs berühmten Abgesang auf das alte Europa der k. u. k. Monarchie, „Die Welt von gestern“, zitiert. Sie beziehen sich selbst erstaunlich positiv auf das untergegangene Habsburger Reich.

Ja, man kann, auch ohne Nostalgiker zu sein, einige Inspirationen aus dieser Geschichte ziehen. Vor allem eine ganz wichtige historische Lehre: Die Habsburger Monarchie war insofern ein Vorläufer eines geeinten Europas, als dass sie viele Elemente hatte, die auch heute unsere politische Organisation definieren. Sie war ein gemeinsamer Markt mit einer gemeinsamen Währung, einer gemeinsamen Verwaltung, gemeinsamen Institutionen und einer gemeinsamen Regierung. Es war ein politisches Gebilde aus vielen unterschiedlichen Ethnien, Kulturen, Sprachen, Mentalitäten. Das alles kommt uns bekannt vor.

Auch die legendäre k. u. k.-Bürokratie!

Die war vorbildlich, das war die avancierteste Bürokratie ihrer Zeit. Eines muss man noch ergänzen, die Habsburger Monarchie war keine Nation und hatte auch nie die Absicht, eine zu werden, sie war ein multinationales, multiethnisches, multisprachliches Gebilde. Das ist nicht deshalb zusammengebrochen, weil so etwas nicht funktionieren kann, sondern weil Nationalisten es in die Luft gesprengt haben. Die Konsequenzen waren entsetzlich: Die blutigsten Kriege, die größten Menschheitsverbrechen. Die kleinen Nationen, die sich gebildet haben, haben nur Terror-Besatzung, Diktaturen und autoritäre Staaten erlebt. Sie sind erst wieder als Teil der Europäischen Union in Souveränität, Wohlstand und Rechtssicherheit eingetreten. Die Lehre daraus heißt, dass wir nicht nur den Anfängen wehren müssen, wenn wir Faschismus wittern. Es beginnt damit, dass wir den Anfängen wehren müssen, wenn wir die Nationalisten am Weg sehen.

Zu den Politikern, die mit mehr Nationalismus die Europäische Union unterhöhlt haben, rechnen Sie auch Angela Merkel.

Sie hat als deutsche Kanzlerin eine gewichtige Stimme in der Europäischen Union gehabt und dabei einen verheerenden Fehler gemacht. Nämlich die Gemeinschaftsmethode in der Europäischen Union aufzukündigen, zugunsten eines Ausgleichs zwischen nationalen Interessen. Alle Menschen, die sich seriös und wissenschaftlich und mit der Geschichte der EU auseinandersetzen, sind sich darüber einig, dass diese politische Entscheidung auf Jahre hinaus die Entwicklung der Europäischen Union blockiert hat. Und das muss man an Angela Merkel kritisieren – und sich fragen, wie kommen wir aus dieser verzwickten Situation wieder heraus? Meine Antwort ist, das wird nur durch Gemeinschaftspolitik gehen, durch die Rekonstruktion von Gemeinschaftspolitik, so wie sie Schritt für Schritt in der Zeit vor der Kanzlerschaft von Merkel funktioniert hat.

Ihre Utopie heißt Gemeinschaftspolitik anstelle von nationalen Interessen.

Ich glaube nicht, dass man die Nationen mit einem Federstrich abschaffen kann, das wäre ein großes Missverständnis. Ich sage nur die Grundidee der Europäischen Union war das Zusammenwachsen, das Verflechten der Nationen und das Herstellen eines gemeinsamen Rechtszustands. Und in dem Maße, wie es Schritt für Schritt vorangeht, werden irgendwann die Nationen absterben. Alle großen Herausforderungen unserer Zeit sind längst transnational. Unter dem Namen Globalisierung wird nationale Souveränität anarchistisch zerstört. Die Finanzströme, die Lieferketten, die Organisation und Verteilung von Rohstoffen, die es eben nur einen bestimmten Teil der Welt gibt. Wir befinden uns in einer dynamischen Situation, die von keinem Nationalstaat allein souverän gemanagt werden kann. Gemeinschaftspolitik hat in Europa begonnen, als erstem Kontinent auf der Welt. Man könnte sagen, wir sind Avantgarde, nur muss uns das bewusst sein.

Ich glaube nicht, dass man die Nationen mit einem Federstrich abschaffen kann, das wäre ein großes Missverständnis
Robert Menasse

Was die Bewusstmachung angeht, so haben Sie mit „Die Hauptstadt“ bereits einen großen Beitrag geleistet, das Europathema zu versinnlichen, flapsig gesagt, sexy erscheinen zu lassen.

Ihrer Idee nach ist die EU wirklich sexy. Nur in ihrer momentanen von inneren Widersprüchen blockierten Form zugleich auch ein Problem. Aber die Antwort kann nicht sein: Kehren wir zu dem Europa der Nationalstaaten zurück, sondern lösen wir die Blockaden. Ich sage nur: Bitte, diskutieren wir das endlich. Ich höre immer nur zwei Phrasen. Die Schönredner sagen: Ich bin ein glühender Europäer. Die Kritiker sagen: Die EU funktioniert nicht, wir müssen sie zurückbauen oder ganz zerstören. Aber wir müssen in Wirklichkeit die Idee der EU verstehen, die Idee hochschätzen und diskutieren, wie wir die Blockaden durch den Grundwiderspruch Nachnationale Entwicklung/Renationalisierung der Mitgliedstaaten lösen können, um die EU weiterzuentwickeln.

Sie beschreiben auch, wie sie selbst in einem Think-Tank der EU mit ihren Vorschlägen ein europäisches Bewusstsein zu schaffen, etwa durch das Ausstellen eines europäischen Passes, auf taube Ohren stießen. Es ist nicht einfach, Begeisterung für die europäische Idee auszulösen.

Ja, es ist schwer. Die Voraussetzung für die Diskussionen, so wie sie heute ablaufen, stehen im Widerspruch zu den Fragen, die wir diskutieren sollten. Wir haben einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Volkswirtschaft, aber dann werden Nationalökonomen um Rat gefragt. Dabei existiert die Nationalökonomie in Wirklichkeit gar nicht mehr, außer in Form von Beratern von Kanzlern oder in Think-Tanks. Der Grundwiderspruch verfestigt sich auch durch die Funktionen derer, die in politischer Verantwortung stehen. Wenn man eine gemeinsame Währung hat, braucht man auch eine gemeinsame Finanzpolitik, aber die, die darüber entscheiden sollen, sind nationale Finanzminister, die haben kein Interesse daran, sich abzuschaffen. Müssten sie auch gar nicht, sie müssten sich nur überlegen, wie man eine gemeinsame Finanzpolitik aufstellt, statt diese zu verhindern, was dazu führt, dass die Menschen das Vertrauen in den Euro verlieren. Es gibt keinen Nichteuropäer, der versteht, warum bei einer gemeinsamen Währung in verschiedenen Teilen Europas verschieden hohe Inflation ist.

Man muss schon ziemlich blöder Nationalist sein, um nicht zu begreifen, dass das Friedensprojekt Europa auch imstande sein muss, seinen Frieden zu verteidigen
Robert Menasse

Nun hat die aktuelle Europawahl eben diejenigen Parteien gestärkt, die sich die Blockade der EU zur Aufgabe gemacht haben.

Die Nationalisten waren schon vorher im Parlament und in den Institutionen und sie haben, wo sie nur konnten, immer alles blockiert. Wenn sie jetzt ein paar Prozentpunkte mehr haben, werden sie ein bisschen mehr blockieren können. Aber strukturell wird das nichts ändern, außer dass eben ein Reformstau entstehen wird. Die Frage für mich ist, ob im Lauf der nächsten Jahre die Menschen begreifen werden, dass wir die Herausforderungen, vor denen wir stehen, durch die Blockadepolitik der Nationalisten nicht lösen können. Und ob wir daher endlich eine Lehre daraus ziehen können. In den nächsten Wahlen geht es dann vielleicht um eine Schicksalsentscheidung.

Und die Anforderungen werden immer größer, zum Beispiel, wenn es um die Frage einer eigenen europäischen Armee geht.

Ja, man muss schon ziemlich blöder Nationalist sein, um nicht zu begreifen, dass das Friedensprojekt Europa auch imstande sein muss, seinen Frieden zu verteidigen. Wann beginnt endlich die Diskussion über eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Was ist gegen so eine Diskussion zu sagen? Die Nationalisten, die Europa mit ihren aggressiven nationalistischen Kriegen in Schutt und Asche gelegt haben, sagen auf einmal, das Friedensprojekt EU sei Kriegshetzer. Wenn es nicht so tragisch wäre, wäre es wirklich komisch. Ich habe mit meinem Essay nicht versucht, auf alle Fragen und alle Probleme Antworten zu geben. Wie könnte ich das? Ich schlage nur vor, dass wir anfangen müssen, bestimmte Fragen zu diskutieren.

Welche drängen da noch?

Die EU besteht aus 27 demokratischen Staaten mit 27 verschiedenen Demokratiemodellen, die nach 27 unterschiedlichen Formen das Europaparlament wählen, das ist noch keine entfaltete europäische Demokratie. Wie können wir das weiterentwickeln? Die Grundidee vom friedlichen, geeinten Europa, muss unantastbar sein. Aber ihrer Ausführung müssen wir jetzt wieder neu diskutieren.

Sie stellen Ihr Essay jetzt auf der phil.Cologne vor, Sie haben es auch schon andernorts vorgestellt. Wie liefen da die Diskussionen?

Es gibt eine eindeutige Erkenntnis aus den vielen Diskussionen, die ich geführt habe. Diejenigen, die diese Diskussion wollen, die proeuropäisch eingestellt sind, ohne die Augen vor den Problemen zu schließen, sind die überwältigende Mehrheit. Da gibt es auch scharfe und berechtigte Kritik. Doch selbst die schärfsten Kritiker gehören zu den 70 Prozent von Pro-Europäern. Das sollte doch auch einem nationalen Politiker in Regierungsverantwortung eindeutig sagen, wo die Mehrheiten liegen. Maximal 30 Prozent wählen die Nationalisten. Eines der Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, ist, dass die sogenannten Parteien der Mitte die Rechten und die Rechtsextremen imitieren. Im Glauben, sie könnten sich von den 30 Prozent zwei, drei Prozentpunkte zurückholen. Aber wir können jetzt in Europa keine Feiglinge gebrauchen.


Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.

Gerade ist sein Essay „Die Welt von morgen: Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde“ bei Suhrkamp erschienen. Mit Michael Hirz spricht Menasse bei der phil.Cologne am 13. Juni, 21 Uhr, im WDR-Funkhaus über Visionen für ein neues Europa. Tickets gibt es auf der Homepage des Festivals.

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