Israels früherer Botschafter kommt zur phil.Cologne und spricht über das Machtkalkül des Premierministers, die Stimmung in seinem Land und den Antisemitismus in Deutschland.
Avi Primor zur Lage in Israel„Die Mehrheit glaubt Netanjahu kein Wort“
Herr Primor, wie schätzen Sie die Aussichten auf einen Erfolg des jüngsten Friedensplans für den Gazakonflikt ein?
Israels Premier Benjamin Netanjahu wird diesem Plan nicht zustimmen, obwohl er es mit US-Präsident Joe Biden mehrfach besprochen hat. Aber das ist typisch für ihn: Er sagt seinen Gesprächspartnern immer das, wovon er meint, dass sie es hören wollen. Und dann tut er das doch, was er will. Das wiederum weiß Biden auch.
Was glauben Sie denn, was Netanjahu will? Wenn man die Diskussion in Israel verfolgt, steht er unter massivem Druck seiner rechtsnational-religiösen Koalitionspartner, auch in der Frage des Friedensplans.
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Der Druck ist vorhanden, das stimmt. Aber er entspricht auch Netanjahus eigener ablehnender Haltung – übrigens nicht nur inhaltlich, sondern auch wegen der gegen ihn laufenden Prozesse. Der Machterhalt ist hier seine Rückversicherung. Was er unter allen Umständen vermeiden muss, sind Neuwahlen. Die würde er aber nach gegenwärtigem Stand haushoch verlieren – mit einem Stimmenverlust für seine Partei von bis zu 50 Prozent. Dann aber wäre auch die Hälfte der Abgeordneten seiner Partei ihre Sitze in der Knesset los. Das will von denen keiner.
Was bleibt dann noch an Möglichkeiten zur Durchsetzung des Friedensplans?
Die Amerikaner könnten den Druck so erhöhen, dass unserer Regierung keine Wahl bleibt. Israel bekommt nicht nur seine Bewaffnung aus den USA, sondern auch die Munition. Die Munition, verstehen Sie! Wie sollte man ohne Munition noch kämpfen können?
Wie viele Herzen schlagen gerade in Ihrer Brust – als israelischer Bürger und Kritiker der amtierenden Regierung?
Oh je! Die Regierung Netanjahu hat vor dem Terrorüberfall vom 7. Oktober die Lage völlig falsch eingeschätzt. Sie hat die Gefahr, die von der Hamas ausgeht, sträflich vernachlässigt. Ja, sie hat die Hamas im Gazastreifen sogar unterstützt, um damit die Fatah zu schwächen, die im Westjordanland das Sagen hat. Und warum? Weil das eigentliche Ziel dieser Regierung die Re-Annexion des Westjordanlands ist: „Ganz Judäa und Samaria dem jüdischen Volk“ – das ist die Ideologie, die dahintersteckt. Auch moralisch kann man sich kaum vorstellen, wie tiefgreifend der Schaden ist, den diese Regierung für unser Land angerichtet hat.
Wie beurteilen Sie es in diesem Zusammenhang, dass Israel die Aufforderungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag zur Beendigung der Kampfhandlungen missachtet?
Solange die US-Regierung sich dazu so schmallippig verhält, beeindruckt das unsere Regierung nicht. Die Unterstützung der Vereinigten Staaten für das Haager Gericht ist nicht sonderlich stark. Und das weiß Netanjahu. Den Haag ist ein Problem – wiederum auch und vor allem ein moralisches. Deshalb werden unsere Juristen auch alles dafür tun, dass es im Hauptverfahren um den Vorwurf des Völkermords nicht zu einer Verurteilung kommt. Was ich im Übrigen auch nicht erwarte. Aber selbst wenn, wird ein solches Urteil keinen Einfluss auf die israelische Politik haben, solange der Rückhalt der USA steht.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat wegen des Agierens Israels im Gazastreifen einen Haftbefehl gegen den Premierminister und Verteidigungsminister Joav Gallant beantragt. Hinterlässt auch das keine Spuren?
In Israel laufen unbestätigte, aber glaubwürdige Geschichten um, dass Netanjahu schon vor Jahren versucht hat, Den Haag einzuschüchtern. Ähnlich wie er es mit unserem Obersten Gericht seit Jahren tut. Das allerdings bleibt nicht folgenlos. Das Oberste Gericht in Israel ist nicht so unabhängig und unbeeindruckt vom Druck der Regierung, wie immer behauptet wird. In seinen Entscheidungen zu den von Israel besetzten Gebieten etwa ist das Gericht sehr zurückhaltend. Daran rührt es nicht, sondern verweist auf eine Militärgerichtsbarkeit in den besetzten Gebieten, die den Namen nicht verdient. Noch existiert das Oberste Gericht – und Netanjahu fürchtet es auch seinerseits. Umso besser kommt ihm der Krieg zupass. Denn auch das Oberste Gericht steht unter dem Eindruck des Überfalls auf Israel und der Notwendigkeit, die Hamas zu bekämpfen.
Noch einmal zu Den Haag…
Auch da hängt die Haltung unserer Regierung letztlich von den israelisch-amerikanischen Beziehungen ab. Die USA haben den IStGH selbst nicht anerkannt. Von daher gibt es hier eine gewisse Sympathie für die Verweigerungshaltung Israels. Folgt Netanjahu Bidens Vorschlägen zur Beilegung des Gazakonflikts, kann er sich der weiteren Unterstützung Washingtons auch an dieser Stelle eher sicher sein. Wenn er aber auf seiner konfrontativen Linie bleibt – und danach sieht es gerade aus -, dann wird dies das ohnehin gespannte Verhältnis zu Washington weiter belasten, und in der Folge könnten die USA ihre schützende Hand auch in Den Haag weiter zurückziehen. Nicht offiziell, aber faktisch.
Als Kriegsziel hält Netanjahu an der „Vernichtung“ der Hamas fest. Wie sehen Sie das?
Damit spricht er einen bestimmten kleineren Teil der israelischen Bevölkerung an. Die Mehrheit glaubt ihm ohnehin kein Wort mehr. Er macht Propaganda, wie es ihm gefällt. Er gibt inzwischen ja auch keine Pressekonferenzen mehr, weil er keine kritischen Fragen beantworten will. Wenn Sie ein Beispiel für den hanebüchenen Unsinn haben wollen, den er verbreitet: Er hat einmal gesagt, „wenn die Amerikaner uns keine Waffen mehr geben, dann werden wir mit den Fäusten weiterkämpfen“. Das Milieu, aus dem ich komme, lacht über so etwas. Aber es gibt auch Leute bei uns, die an so etwas Gefallen haben.
In Deutschland wächst die Kritik am Agieren Israels im Gazastreifen. Was raten Sie der Bundesregierung?
Nach allem, was Deutschland über die Jahrzehnte hinweg für Israel getan hat, kann sich die Bundesregierung eine unverblümte Positionierung leisten. Sie sollte selbst keine politischen Schritte gegen Israel initiieren. Das ginge zu weit und stieße in Israel auf breites Unverständnis. Aber gegen ein koordiniertes Vorgehen Deutschlands mit den anderen europäischen Mächten, vor allem mit Frankreich, und in allererster Linie natürlich mit den USA ist auch vor dem Hintergrund des deutsch-israelischen Verhältnisses nichts einzuwenden.
Verstehen Sie, dass es starke Gefühle der Empathie für die Bevölkerung im Gazastreifen gibt – auch bei denen, die Israel „unbedingte“ Unterstützung im Abwehrkampf gegen die Hamas zugesichert hatten?
Die Israelis in ihrer Mehrheit verstehen Kritik am Vorgehen unserer Armee im Gazastreifen nicht. Sie sehen aber auch nicht, was wir dort tun. Unser Fernsehen zeigt die Gräuel nicht. Natürlich könnten die Israelis ausländische Fernsehprogramme verfolgen oder sich im Internet informieren. Aber das geschieht nicht. Bei uns geht es ausschließlich um das Schicksal der Geiseln und ihrer Familien, der bereits befreiten und der nach wie vor verschleppten. Deren Leid berührt die Menschen in Israel aufs Intensivste. Weiter denken sie aber nicht.
Was sagen Sie zur Gefahr des Antisemitismus in Deutschland?
Es gab und gibt Antisemitismus in Deutschland. Die angestammte deutsche Bevölkerung schätze ich heute nicht antisemitischer gesinnt ein als früher. Das ist beherrschbar. Allerdings sind viele Menschen mit Migrationshintergrund hinzugekommen, oftmals Muslime. Die bringen gegenüber den Juden und gegenüber dem Staat Israel eigene Vorstellungen mit. Dass man Israel aktuell scharf kritisiert, ist sehr verständlich, weil es mit der Politik der israelischen Regierung zu tun hat. Wenn sich daran nichts ändert, ändern die Menschen ihre Einstellungen. Ich sehe da einen sehr direkten Zusammenhang und dann dafür auch einschlägige historische Erfahrungen beisteuern.
Woran denken Sie?
Am Beginn meiner Laufbahn im diplomatischen Dienst gehörte Frankreich wegen des Algerien-Kriegs zu den weltweit am meisten verachteten Ländern. Wie hat man damals nicht auf die Franzosen geschimpft! Doch als der Krieg vorbei war, geriet das alles auch sehr schnell wieder in Vergessenheit. Ich glaube, ein Stück wäre es auch so, wenn Israel den Krieg im Gazastreifen beenden würde.
Als „Elefant im Raum“ – also das eigentliche Problem des Nahost-Konflikts, das geflissentlich ignoriert wird – machen Sie die Palästinenserfrage namhaft. Haben Sie noch die Hoffnung, dass es zu einvernehmlichen Lösungen des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern kommt, insbesondere zu einer Zwei-Staaten-Lösung?
Das hängt davon ab, welche Regierung wir haben werden. Bleibt Netanjahu im Amt, gibt es keine Lösung. Der rechts-religiöse Parteichef Bezalel Smotrich ist in Netanjahus Kabinett ja nicht nur Finanzminister, sondern als zweiter Verteidigungsminister auch für das Westjordanland zuständig. Jetzt können Sie sich ausmalen, was das bedeutet! Er lässt die Palästinenser immer weiter unterdrücken – in der Hoffnung, dass sie das Land verlassen. Wohin sie gehen? Egal! Smotrich ermutigt die Siedler zu Angriffen auf die palästinensische Bevölkerung und – soweit er das als Finanzminister unterstützen kann – auch zum Bau neuer Siedlungen.
Sieht niemand, dass diese Politik von heute zum Terror von morgen führen könnte?
Wenn es nach Netanjahu geht, wird sich an dieser Politik nichts ändern. Und im Moment hat er keine Wahlen zu befürchten. Er kann also noch drei Jahre weitermachen – wenn seine Koalition hält und es keinen Bruch in seiner eigenen Partei gibt.
Avi Primor bei der phil.Cologne
Avi Primor, geb. 1935 in Tel Aviv, war von 1993 bis 1999 Botschafter Israels in Deutschland. Er leitet heute einen trilateralen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studierende an dem von ihm gegründeten „Zentrum für europäische Studien“ an der privaten Universität „Interdisciplinary Center“ (IDC) Herzliya.
Soeben ist Primors neues Buch erschienen: „Bedrohtes Israel. Ein Land im Ausnahmezustand“ (Verlag Quadriga), 224 Seiten, 24 Euro.
Zum gleichen Thema spricht Avi Primor am Dienstag, 11. Juni, auf der phil.Cologne. Moderation: Sonia Mikich. 20 Uhr, Stadthalle Köln-Mülheim, Jan-Wellem-Straße 2, 51065 Köln. Tickets gibt es hier.
Wir verlosen für den Abend 3 x 2 Karten. Wenn Sie gewinnen wollen, schreiben Sie bitte bis Freitag, 8 Uhr, eine Mail mit Ihrem vollen Namen und dem Betreff „Avi Primor“ an ksta-kultur@kstamedien.de. Die Gewinner werden wir per Mail benachrichtigen, die Karten werden an der Abendkasse hinterlegt.