Das Kölner Klassikfestival Romanischer Sommer ging mit einer langen Nacht zwischen Hardcore-Moderne und verjazztem Bach zu Ende.
Romanische Nacht in KölnDas Klischee vom langweiligen Mittelalter grandios widerlegt
Üblicherweise wollen Konzertbesucher das Geschehen „da vorne“ nicht nur hören, sondern auch sehen. In der Kölner Kapitolskirche sind sie damit freilich gar nicht mal so gut beraten. Die klangliche Aura etwa eines hochprofessionellen Vokalensembles, das in der Ostkonche auftritt, entfaltet sich dort gerade dann, wenn der (andernfalls zumeist vor dem Lettner platzierte) Besucher nichts mehr sieht, sondern aus der Tiefe der Basilika nur noch zuhört. Ohne dass sich die Konturen ungenießbar verwischten, entsteht dann jene eigentümlich überwältigende Raumklang-Situation, die sich der Akustik der Kirchenromanik genauso verdankt wie der Qualität der Aufführung.
Beim Auftritt der fünfköpfigen Wiener Sängergruppe Cinquecento um den Counter Terry Wey im Rahmen der (wie üblich den Romanischen Sommer beschließenden, wegen der anstehenden Europameisterschaft leicht vorverlegten) Romanischen Nacht war dies ganz entschieden der Fall. Zwei Motetten von Heinrich Isaac, große Teile einer Cantus-firmus-Messe (genauer: einen weltlichen Chanson tropierenden Vertonung des Messordinariums) von Guillaume Dufay und dazwischen Gregorianik – dieser Ausflug ins überwiegend späte Mittelalter darf ob der dort entfalteten Fülle und Klangpracht, ob der konzis platzierten Polyphonie, ob des dramaturgisch genau gesetzten Auf und Ab von Anschwellen und Verklingen wohl als der Höhepunkt des diesjährigen Reigens von fünf freitagabendlichen Kurzkonzerten bezeichnet werden. Während sich bei Isaac bereits verhalten die später für gut drei Jahrhunderte fest etablierte Dur/Moll-Tonalität ankündigt, verharrt Dufay in einer modal geprägten Harmonik, die trotz ihrer leeren Quinten und der fehlenden Kadenzspannung auch für „traditionelle“ Ohren eine (mit Thomas Mann zu sprechen) „Fülle des Wohllauts“ aus sich entlässt. Langweiliges Mittelalter? Von wegen!
Beim großartigen Kölner Minguet Quartett kreuzte sich Luigi Nono unfreiwillig mit John Cage
Die Agenda der Romanischen Nacht ist mit programmatischem Willen stets weit gespreizt – durch die Epochen, Genres, Stile, Kulturkreise hindurch. Diesmal war sie es in besonders starkem Maß. Und es kann sogar die Frage gestellt werden, ob das Prinzip „Variatio delectat“ in jedem Fall und unbedingt zielführend ist. Cinquecento vorangegangen war ein Konzert des großartigen Kölner Minguet Quartetts, das Luigi Nonos Hölderlin-„Fragmente – Stille, An Diotima“ spielte. Schön und gut, und nichts gegen die technische und expressive Dichte und Intensität der Interpretation, aber das Werk ist immer noch, obwohl inzwischen über 40 Jahre alt, extrem fordernde Hardcore-Moderne. Passt sie wirklich zu diesem Anlass, in diese Umgebung, in den ganzen Kontext? Tatsächlich macht die um den Tritonus als zentrales Signet gebaute Musik mit ihrer „Stille“ ernst, der Zusammenhang wird immer wieder durch Pausen aufgesprengt, ins Verklingen geführt. Das verlangt Stille auch von und aus der Umgebung – Husten, Füßescharren, Stühlerücken, von draußen die Sirene der Feuerwehr, all dies, durch den Raumhall verstärkt und gleichsam zum Teil der Performance werdend, ist der Wirkung abträglich. Da kreuzt sich dann Nono unfreiwillig mit John Cage.
Die Eröffnung durch Frank Martins vom Bonner Kammerchor unter Leitung von Georg Hage gesungene doppelchörige A-cappella-Messe (1926 vollendet) konnte solche Bedenken nicht auf sich ziehen. Das nicht nur intonationshalber schwere, freilich über weite Strecken noch tonal gebundene Stück klingt in diesem Raum ganz ausgezeichnet, zumal dann, wenn es mit jener Leuchtkraft, mit der kontrollierten Ekstase, mit der artikulatorischen Präsenz und den einprägsamen Farbwechseln vorgestellt wird, die die Bonner Gäste hier mit- und einbrachten. Dass da einige wenige Stellen nicht ganz „saßen“ – wer will es übelnehmen?
Markierte die Nono-Sektion eine absolute Obergrenze des Anspruchsniveaus, so ging es mit „Bach to the Roots“ in die andere Richtung, ins Populär-Attraktive, um nicht zu sagen: in die Gaudi. Das ist nicht unbedingt negativ gemeint: Das Ensemble Uwaga! um den Geiger Christoph König (hinzukommen eine weitere Violine, Kontrabass und, bezeichnenderweise, ein Akkordeon) richtet, getriggert durch den „Groove“ der Musik, das Bach'sche Universalgenie auf Jazz, Pop und Puszta-Folklore hin aus, durchaus bekannte Stücke und Melodien vom Passionschoral bis zum Doppelkonzert werden diesem Sog ausgesetzt. Im Einzelnen ist das brillant und amüsant, auch wird man so schnell nicht behaupten können, dass Bach es nicht „verträgt“. Auf der anderen Seite lässt sich nach dem Sinn der Übung fragen: Ein verjazzter Bach ist nun wirklich nichts Neues mehr unter der Sonne. Und wenn's in Richtung Balkan geht, reißt die Bach-Connection sogar mehr oder weniger ab. Da ist man dann stilistisch eher beim Ungarischen Tanz à la Brahms.
A-Cappella-Gesang aus Simbabwe mit dem Vokal Trio Insingizzi erklang dann noch in der vormitternächtlichen Stunde. Da hatte der Schreiber dieser Zeilen allerdings erschöpfungshalber aufgeben müssen.