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Russland-Korrespondentin Sonia Mikich„Nicht alle Russen sind putinbesoffen”

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Sonia Mikich

Frau Mikich, Sie waren sechs Jahre Korrespondentin in Russland, haben noch enge Kontakte ins Land. In Ihrer Autobiografie schreiben Sie: “Um Russland trauere ich wirklich”. Das war noch vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Wann haben Sie gemerkt, dass das Aufbruchsgefühl der 90er in eine falsche Richtung umschlägt?Sonia Mikich: Das begann mit der Präsidentschaft von Wladimir Putin. Da hatte ich den Eindruck, es tritt einer an, der aus den Geheimdiensten kommt, der zu Repressionen bereit ist, der alle Macht auf sich konzentriert, Konkurrenz beiseite schafft und zwar auch institutionell. Beispiel: Die Gouverneure in Russland waren zuvor stark, sie wurden entmachtet, wurden nur noch ernannt und nicht mehr gewählt. Putin schaffte die Parteienvielfalt der 90er Jahre ab, die Medien wurden gegängelt. Da wusste ich schon, das geht nicht gut für die noch junge russische Demokratie aus. Mich hat zudem der Tschetschenien-Krieg sehr geprägt, der mit einer unvorstellbaren Brutalität geführt wurde. Russland wurde immer autoritärer, war immer mehr auf diesen Menschen fixiert.

Hätte der Westen früher erkennen müssen, was Putin plant?

Ich sage ja. Auf der Sicherheitskonferenz in München hat Putin 2007 den Westen herausgefordert. Möglicherweise hätte man ihm dies nicht so einfach durchgehen lassen dürfen. Priorität im Westen, auch in Deutschland, war aber: wir sind alle an Wirtschaftsbeziehungen interessiert. Ja, Handel treiben zu wollen ist nicht falsch. Das hieß aber: nicht so ganz genau hinzuschauen, sich vielleicht kurzzeitig über Putin zu empören, aber dann war es auch gut. Jetzt treten schlaue Leute auf, die vorher Tschetschenien nicht buchstabieren konnten, und nun alles wissen. Ich will freilich vielen zugestehen, dass sie spätestens seit der Annexion der Krim dazugelernt haben. Allerdings zu spät.

Talk mit K

Sonia Mikich, geboren 1951 in Oxford, arbeitete als Journalistin, Moderatorin und Chefredakteurin beim WDR. Als Auslandskorrespondentin berichtete sie sechs Jahre aus Moskau. Gerade hat sie mit „Aufs Ganze. Die Geschichte einer Tochter aus scheckigem Haus“ ihre Autobiografie veröffentlicht.

Hören Sie das ausführlichere Gespräch als Podcast-Folge „Talk mit K“. Sie finden die aktuelle Folge bei Podcast-Plattformen wie Apple Podcasts, Spotify oder Deezer. Suchen Sie dort nach „Kölner Stadt-Anzeiger“. Oder hören Sie ihn hier.

Am Freitag, 10. Juni spricht Sonia Mikich auf der Phil.Cologne mit Frank Plasberg über das Thema „Zeitgenossenschaft: Der Westen. Russland. Die Welt.“, 21 Uhr, Comedia Theater

Der Lage in der Ukraine wurde ja aber auch nach 2014 wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

Nicht nur dort: An den Rändern Russlands, also da, wo früher die Sowjetunion war, gibt es viel Unerledigtes: Transnistrien etwa, an der Grenze Moldawiens. Auch Armenien ist stark von Russland abhängig, und in Kasachstan mischt sich Wladimir Putin ein, er will da keine Unruhen haben. Er versucht jetzt, wenn er nicht gleich erobert, so wie in der Ukraine, mindestens seine Interessensgebiete zu zementieren. Das müssen wir wahrnehmen. Ich denke nicht so sehr ans Baltikum, dafür sind Lettland, Litauen und Estland viel zu stark in der NATO, in der EU integriert. Aber Gebiete, wo man sich slawisch definiert, wo auch die orthodoxe Religion eine Rolle spielt, sind für Putin geopolitisch und ideologisch Russlands Interessenssphäre. Insbesondere Belarus, die Ukraine und Russland möchte er zu einer neuen, alten Einheit schmieden. Das ist in seiner Sicht die historische Mission.

Es treibt viele Menschen die Sorge vor einem Dritten Weltkrieg um. Sie auch?

Merkwürdigerweise teile ich die nicht. Ich weiß, dass viele Menschen über Atomkrieg nachdenken und sich ängstigen. Aber faktisch: Atombomben sind vor sehr, sehr langer Zeit einmalig eingesetzt worden. Aus Hiroshima und Nagasaki hat die ganze Welt gelernt: Das ist eine Waffenart, die verheerend ist. Die gegenseitige Drohkulisse, die Aufrüstung haben dann funktioniert, man wusste einfach, die andere Seite kann es auch. Putin ist kein Irrer, das kann ich nur immer wieder betonen.

Haben Sie denn damit gerechnet, dass er die komplette Ukraine angreifen wird?

Ich war nicht überrascht. Andererseits habe ich mir den Kriegsverlauf doch anders vorgestellt, nämlich diese abtrünnigen Provinzen im Donbass zu sichern, die Fahnen neu zu stecken und Kiew so lange zu belagern, bis die Regierung abtritt. Ich habe mir keinen solch flächendeckenden, brutalen Angriffskrieg vorgestellt mit enormen menschlichen Verlusten, mit zerstörten Städten, grauenhaften Menschenrechtsverletzungen und mit dieser Blutspur. Ich wusste auch nicht, dass die Ukrainer inzwischen eine so starke eigenständige Identität entwickelt hatten. Das begann wohl mit dem Maidan-Aufstand 2014, als man sich zu Europa und zur Demokratie bekannte. Die Menschen, insbesondere die Jungen, wollen eine souveräne Ukraine und sie kämpfen gegen eine Besatzungsmacht.

Wie hoch muss Putins Preis sein?

Die Frage, ob Deutschland in die Ukraine Waffen liefern soll, wird viel diskutiert. Welche Position vertreten Sie?

Ich habe wirklich lange drüber nachgedacht und kann beide Positionen nachvollziehen. Die sind ja beide in sich völlig logisch. Aber dürfen wir wirklich den Gedanken “Nie wieder Krieg” gegen “Nie wieder Auschwitz” ausspielen? So wie in diesen offenen Briefen? Ich sehe mich dazwischen. Ich mag diesen hohen Ton nicht, ich mag nicht, dass man sich entscheiden muss: Team „noch mehr Waffen liefern“ oder Team „bloß keine Eskalation“. Die Ukraine muss entscheiden, was für sie ein Sieg ist, nicht andere. Die Waffenlieferungen müssen weitergehen, weil die Ukraine nicht verlieren darf und weil der Preis für Putin hoch sein muss. Er muss so hoch sein, dass er sich eine zweite, eine dritte Aggressionswelle nicht mehr leisten kann.

Sie kennen auch viele Menschen in Russland, die anders denken als es die Propaganda vorgibt. Wie man die unterstützen?

Die Zivilgesellschaft muss gestärkt werden, Beziehungen aufrechterhalten. Wenn ich jetzt ins Kleine gucke, also auf meine Freundinnen, meine Kollegen von damals kann ich nur sagen, sie sind und sie waren alle gute Demokraten. Sie finden Putin und den Krieg grauenvoll. Ja, sie sind zum Teil apathisch, haben resigniert. Keiner geht in einer Diktatur auf die Straße, um sich für fünf Minuten einsamen Protest ins Gefängnis stecken zu lassen. Viele haben Angst, ihren Job zu verlieren und vor Zerwürfnissen in der Familie. Nein, nicht alle Menschen sind gehirngewaschen oder putinbesoffen, und man sollte sich fragen: Wie mutig wäre ich in einer Diktatur? Und das ist eine Diktatur. Natürlich sind Russen demokratiefähig. Wir haben es in den 90ern gesehen, als die Sowjetunion kollabierte und die Menschen ganz selbstverständlich wie bei uns Meinungsfreiheit und -vielfalt hatten und genossen. Wenn Putin und seine Umgebung verschwinden würden, hätte die Demokratie eine Chance, aber ich weiß nicht, wie lange das dauert. Ich habe Angst, dass ich das nicht mehr erleben werde.

Die Info-Flut und der Müll

Sie waren zu einer Zeit Korrespondentin, als man noch nicht auf Social Media in Echtzeit aus allen Ecken der Welt Informationen erhalten konnte. Wie sehr hat sich dieser Job verändert?

Er ist anstrengender, die Informationsflut überfordert und lenkt ab. Damals war es möglich, selber irgendwo hinzugehen, sich Zeit zu nehmen. Das ist ganz wichtig für Reporterinnen, sich Infos nicht im Netz zusammenzusuchen, sondern physisch am Ort zu sein. Reporterarbeit ist Beinarbeit. Die Redaktionen hatten Vertrauen in die Reporterinnen, es ging nicht darum, Klickzahlen zu generieren oder der erste und einzige zu sein. Heute müssen Korrespondenten vor allem analysieren und einordnen, weil es eben diese Flut an Informationen gibt, die ja auch viel Müll enthält. Hinzukommt, dass die Investigation, auch in der Auslandsberichterstattung, wirklich stark geworden ist, was ich fantastisch finde und in meinen letzten Jahren als Chefredakteurin auch sehr gerne gepusht habe.

Sie bezeichnen sich als Feministin und sind immer sehr selbstbewusst Ihren Weg gegangen. Feministische Themen werden heute oft, aber auch oft in sehr gereizter Stimmung debattiert. Kommen wir da wirklich weiter oder drehen wir uns im Kreis?

Wir sind auf jeden Fall in Deutschland entschieden weitergekommen, als es in meinen jungen Jahren der Fall war. Es gibt eine Selbstverständlichkeit und eine Anspruchshaltung von Frauen, und daran ist nicht mehr zu rütteln. Karriere oder Kinder? Schließen sich nicht aus. Aber: Vorsicht bei der Partner-Wahl. Und große Ansprüche haben nach wie vor ein Preisschild. Das bleibt auch noch lange so. Und wir haben manchmal Diskussionen, die ich ein bisschen bemüht finde. Ich bewundere viele der jungen Feministinnen. Aber ich finde, sie sind manchmal sehr ungnädig mit den alten Feministinnen. Das ist nicht in Ordnung.

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Welche Debatten finden Sie bemüht? Die übers Gendern?

Mir ist die Debatte zu aufgeheizt. Ich habe in dem Buch sanft gegendert, wenn es um Aufzählungen ging, habe ich gerne Reporterinnen und Journalistinnen geschrieben. Aber ich habe ansonsten nichts mit Sternchen, Unterstrichen und mit dieser Künstlichkeit zu tun, ich kann auch Journalist:innen nicht gut aussprechen. Ich respektiere, wenn andere das wichtig finden. Irgendwann werden es wahrscheinlich alle machen, und man wird bei mir sagen, die ist schon hundert Jahre alt, aber das ist ja auch in Ordnung so.

Sie beschreiben in Ihrem Buch das mediale Patriarchat, dem Sie zu Beginn begegneten. Der Blick auf die Welt war männlich. Hat sich das geändert? Und was kann ein weiblicher Blick bewirken?

Zunächst einmal heißt weiblich nicht, dass nur Frauen das können und Männer nicht. Es gibt Männer, die differenziert hinschauen, und es gibt Frauen, die im Schwarz-Weißen verhaftet sind und nur in Täter-Opfer-Kategorien denken. Ich meine damit Selbstzweifel, Perspektivwechsel, Grautöne. Für einen zeitgemäßen Journalismus, für eine zeitgemäße Außenpolitik gilt: Sehe ich eine Situation zu einseitig? Wie bedeutet ein Krieg für Männer und Frauen, für Alte, für Junge, für Kranke, für Gesunde? Wer ist besonders auf welche Art bedroht? Dies mit in politische Entscheidungen einfließen zu lassen und nicht nur zu sagen, die hunderttausend Bewohner flüchteten, sondern wie in welchen Konstellationen, würde ich mir wünschen. Es geht darum, dass an den runden Tischen bei Friedensverhandlungen auch Menschenrechtsorganisationen sitzen und eben nicht nur die Wirtschaftsdelegation, dass die besonderen Anliegen der Frauen eine Rolle spielen. Ist das jetzt eine feministische Außenpolitik? Ich glaube, das bewegt sich dahin. Es geht um den ganzheitlichen Blick, sich selbst zu hinterfragen und nicht irgendetwas als gesetzt vorauszusehen.