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Sängerin Alli Neumann„Wir Polen sind sehr gut darin, die besseren Deutschen zu sein“

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Alli Neumann

Köln – Im März 2020 erscheint Alli Neumanns Debüt. Die Tour zum Album ist ein Triumph. Deutschland schwärmt von der unerschrockenen jungen Frau aus dem Norden, die wie die feministische Antwort auf Falco klingt.

So hätte es laufen können. Stattdessen kam, was eben kam. Alli Neumann verschob ihr Debüt, sagte die Tour ab. Zog sogar aus der Hamburger WG aus, die sie sich mit ihren drei Schwestern teilt, als sie anfing, in der Maserung ihrer Tapete Gesichter zu erkennen. Und kehrte in das nordfriesische Dorf ihrer Kindheit und Jugend zurück.

„Mein vorgezogenes Rentnerleben“, so beschreibt die Mittzwanzigerin ihre Stadtflucht. Sie strahlt aus dem Zoom-Fenster, ihr Strickpulli leuchtet in den Tönen von Porzellan mit Blaudekor, statt neongrünem Lidschatten trägt sie eine große Brille. Wenn sie erzählt, wie nah sie ihrem Traum gekommen sei, spricht sie ohne Bedauern. Als ginge es gar nicht um den großen Durchbruch: „Fast wäre ich mit einem Nightliner durch Deutschland gefahren!“

Kunst ist nur ein Werkzeug

Klar, könne sie es nicht erwarten, wieder auf der Bühne zu stehen. Auch das verzögerte Debütalbum soll dieses Jahr endlich erscheinen, gründlich überarbeitet. Doch selbst, wenn sie sich in erster Rolle als Musikerin sehe, sei das ja noch nicht alles: „Ich bin hier im direkten Umfeld von Ton, Steine, Scherben groß geworden. Deren Auffassung von Kunst war auch die meiner Familie: Die Kunst ist nur ein Werkzeug, um das Denken anzuregen, um kulturelle Bewegungen anzustoßen.“

Weshalb Alli Neumann für die zweite digitale Sonderedition des Kölner Musikfestivals c/o pop – vom 22. bis zum 24. April – statt eines Konzertes eine Begegnung vorgeschlagen hat, die ihr am Herzen liegt. Sie trifft Helene Shani Braun, die sich als eine der ersten weiblichen und dazu noch queeren Personen in Deutschland zur jüdischen Rabbinerin ausbilden lässt.

Jiddische Lieder

„Zum einen wollte ich sie einfach kennenlernen, zum anderen die Gelegenheit nutzen, dem Judentum in Deutschland ein anderes Gesicht zu geben. Helene Shani Braun vermittelt ja auch viel vom religiösen Aspekt der jüdischen Kultur. Ein wichtiger Schritt, jetzt, wo der Antisemitismus in Deutschland wieder zunimmt.“

Wer Alli Neumann nur von ihren Videos kennt – Monster-Metaphern, Knochen-Funk, Fuzz-Gitarren und die fröhliche Zickigkeit der Neuen Deutschen Welle – käme nie auf die Idee, dass sie in ihren Konzerten auch jiddische Lieder singt.

„Die habe ich von meiner jüdischen Großtante aus New York gelernt.“ Sie habe auf beiden Seiten der Familie jüdische Wurzeln, auch wenn sie nicht jüdisch aufgewachsen sei. „Ich hatte mich lange Zeit eher kulturlos gefühlt. Jetzt versuche ich, meine Familiengeschichte zu erkunden und mehr und mehr zu ihr zurück zu finden.“ Ihre Verwandtschaft mütterlicherseits wohnt an der ukrainischen Grenze, im ehemaligen Jiddischland. Dort, schwärmt Neumann, existiere noch immer eine vibrierende jüdische Kultur. „Im Krakauer Stadtteil Kazimierz wird jeden Abend in den Cafés Jiddisch gesungen.“

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Auch ihre polnische Herkunft hat Neumann als junges Mädchen eher verdrängt. Heute feiert sie diese umso offensiver. Ihre Mutter hätte sich als einzige Polin im friesischen Dorf oft geschämt, erzählt Neumann. Sie selbst habe ihren Schulkameraden verschwiegen, wenn sie die Ferien in Polen verbracht hatte und stattdessen deutsche Verwandte erfunden.

„Wir Polen sind sehr gut im Assimilieren. Darin, das rollende »r« und die Aussprachefehler rauszukriegen, darin, die besseren Deutschen zu sein. Erst als ich nach Hamburg zog und dort erlebte, wie etwa meine türkischen Freunde, eine Community für sich gebildet haben und einen safe space, wurde mir klar, wie uncool es ist, das ich das nur habe, wenn ich in Polen bin.“

Offene Wurzeln

Also entschloss sie sich, ihre Wurzeln offen zu legen. In Interviews und singend auf Konzerten. „Auf einmal kamen dann Leute auf mich zu: Hallo, ich spreche auch jiddisch oder polnisch. Plötzlich gab es eine Gemeinschaft. Die konnte erst entstehen, als ich das, was ich bin, auch nach außen hin lebte.“

Beinahe hätte Neumann eine ganz andere Musikerkarriere eingeschlagen. Schon mit 15 galt sie als vielversprechende Newcomerin. Nur war es nicht ihr Versprechen, sondern das der Musikindustrie. Sie brach die Schule ab und fand sich plötzlich vor „zehn Anzugträgern in ihren Fünfzigern“ sitzend wieder, die genaue Vorstellungen davon hatten, was das Mädchen zu singen habe. „Ich wusste nicht, wie ich »Nein« sagen sollte. Dazu fehlte mir die Souveränität. Wie willst du für etwas kämpfen, wenn du selbst noch nicht weißt, was du willst?“

Was die Männer in den Anzügen wollten? „Ich sollte etwas in Richtung Rock machen. Da kamen dann so Vorschläge, wie: »Zieh doch mal eine Lederjacke an und setz dich in einen Einkaufswagen und lass dich Bierflaschen werfend durch Berlin fahren.« Dabei finde ich Vandalismus nicht witzig. Ich bin diejenige, die nachts rum läuft und Scherben aufsammelt, damit am nächsten Morgen kein Kind rein tritt.“

Nein sagen lernen

Irgendwie schaffte es Neumann schließlich doch, „Nein“ zu sagen, kehrte in die Schule zurück und „ spielte noch einmal fünf Jahre vor zehn Leuten“. „Ich habe gelernt mit Frustration und Erfolglosigkeit umzugehen. Das hat mich auf die Corona-Pandemie vorbereitet.“

Außerdem hat sie noch ihr zweites, ungeplantes Standbein: Die Schauspielkarriere, die begann, als Regisseur Kim Frank – genau, der ehemalige Sänger der Teenie-Band Echt – Alli Neumann vor drei Jahren für eine Hauptrolle in seinem Spielfilm „Wach“ verpflichtete. 2020 war sie in Detlef Bucks Gangster-Komödie „Wir können nicht anders“ zu sehen. Und während der Pandemie spielte sie in Ed Herzogs „3 Stunden“, einen Film über die letzte Zugfahrt von München nach Ost-Berlin vor dem Mauerbau.

„In der Musik dreht sich alles um Alli Neumann, als Person und als Marke. Beim Schauspielen kann ich Alli Neumann abgeben, das ist wie Urlaub von mir selber.“ Sie hat gut lachen. Für Alli Neumann gibt es keinen Grund zur Eile. Das mit dem Popstar-Dasein kommt noch früh genug.

„Alli Neumann trifft Helene Shani Braun“ ist am Freitag, 23.4. ab 21 Uhr im Stream der c/o pop zu sehen. Die zweite Digital-Ausgabe des Kölner Musikfestivals präsentiert am 22. und 23.4. unter anderem Chilly Gonzales, Die Höchste Eisenbahn, Alice Phoebe Lou und Bosse im kostenlosen Stream.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ wird als Medienpartner viele Konzerte des Festivals auf www.ksta.de zeigen.