AboAbonnieren

Salzburger FestspieleTriumph für einen großen Unbekannten

Lesezeit 5 Minuten
Vor einer beschriebenen Tafel sitzen und stehen Schauspieler um einen langen Tisch herum, während einer eine Flasche Sekt öffnet.

Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ nach Dostojewskis berühmten Roman in der Inszenierung von Krzysztof Warlikowski bei den Salzburger Festspielen 2024

Das größte Klassik-Festival begeistert mit einer mitreißenden Opern-Rarität, die Schauspielsparte kommt dagegen nicht so recht in Schwung.

Kein Festival gleicht den Salzburger Festspielen. Das Ambiente ist einmalig, gehobene Laune herrscht dort unabhängig vom Erfolg der großen Premieren. Denn die Salzburger Festspiele sind ganz viele Festivals in einem, gebündelt in einem festlichen Gesamtklang, der sich vibrierend verstärkt in der betörenden Barock-Kulisse der Stadt, in der sich alles auf kleinstem Raum ballt: Die Spielstätten, Hotels und Gasthäuser, wo sich Publikum, Stars, Macher und Kritiker zwanglos mischen, kein Kunst-Ort der Welt ist kommunikativer als Salzburg.

Salzburger Festspiele begeistern mit einmaligem Ambiente

Statt einer großen Opernproduktion eröffnet das Hauptprogramm – nach der achttägigen „Ouverture spirituelle“, die Avantgarde und sehr alte Musik kombiniert – mit einer nur konzertant gebotenen Premiere von Richard Strauss‘ später Oper „Capriccio“. Im Großen Festspielhaus ist die Lesart des derzeit am höchsten gehandelten Strauss-Experten zu erleben, Christian Thielemann dirigiert die Wiener Philharmoniker, die Sängerschar liest sich exquisit mit Publikumsliebling Elsa Dreisig als Gräfin an der Spitze. Thielemann setzt auf maximale Transparenz, Dreisigs Glockensopran klingt hinreißend jung, zu jung allerdings für eine Gräfin, alle anderen singen trefflich. Aber zum Abheben fehlt, dass es eben kein Theater wird, es fehlt die komödiantische Freiheit.

Thom Luz inszeniert Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“

Am Folgetag bringt der Schweizer Regisseur Thom Luz Stefan Zweigs erfolgreichstes Buch auf die Bühne, die Essaysammlung „Sternstunden der Menschheit“. Der jüdische Dichter verbrachte seine letzten Jahre vor der Flucht in Salzburg, am Kapuzinerberg unweit des Landestheaters, bevor er nach der Durchsuchung seiner Wohnung die Koffer packte. Der Regisseur erinnert gleich zu Beginn an jene Durchsuchung, die Zweig in einem Brief schilderte, indem er diesen aus dem Off sprechen lässt.

Die Stimmen des sechsköpfigen Ensembles überlagern sich, immer wieder tönt es auch aus den Lautsprechern, Textfetzen aus den „Sternstunden“, verschränkt mit Briefen Zweigs aus dem brasilianischen Exil. In den stärksten Momenten gewinnt das Biografische die Oberhand anhand von Zweigs Aufzeichnungen. Denn mit der Zeit wirkt die Collage-Technik ermüdend, weil sie schnell auserzählt ist. Trotz seiner 90 Minuten Dauer zieht der Abend sich.

Mozarts „La Clemenza di Tito“ wird bei Robert Carsen zum aktuellen Polit-Thriller

In der Opernsparte folgt neben der Wiederaufnahme von Romeo Castelluccis „Don Giovanni“ eine Übernahme der Pfingstfestspiele, Mozarts „La Clemenza di Tito“ mit der Pfingst- Intendantin Cecilia Bartoli in der Rolle des Sesto. Regisseur Robert Carsen, der auch den neuen „Jedermann“ inszeniert hat – der mehr denn je ein Renner ist und mit Hauptdarsteller Philipp Hochmair den Darling der Saison bereits gefunden hat - inszeniert Mozarts Krönungsoper als heutigen Polit-Thriller, inklusive Capitol-Sturm und einer Vitellia, die an Giorgia Meloni erinnert.

Im Haus für Mozart dirigiert Gianluca Capuano Les Musiciens du Prince historisch informiert, mit weicher Tongebung. Die Tempi sind allerdings oft überschnell, die Strukturen verwischen. Andererseits tritt Capuano auf höchste Weisung auf die Bremse, sodass etwa die zweite Arie des Sesto in schöne Einzelteile zerfällt. Das zerdehnte Tempo gibt Bartoli Gelegenheit, ausgiebig ihre Vorzüge auszustellen. Zelebrierte Piani und ihre gezwitscherten Koloraturen sind nebst ihrem glucksenden Timbre ihre Markenzeichen, die das Stammpublikum haben will. Und zuverlässig bekommt.

Krzysztof Warlikowski triumphiert mit „Der Idiot“ bei den Salzburger Festspielen

Dann folgt der erste Triumph der Festspiele: Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ nach Dostojewskis berühmten Roman in der Inszenierung von Krzysztof Warlikowski. Der Komponist gilt noch als der große Unbekannte des 20. Jahrhunderts, Regisseur Warlikowski übertrifft sich mit dieser Arbeit selbst und zeigt enorme Souveränität in der Personenführung und der Beherrschung der 40 Meter breiten Riesenbühne der Felsenreitschule. Der Titelheld, Fürst Myschkin ist eine Art reiner Tor, der sich nach einem Sanatoriumsaufenthalt in die von Neid, Geldgier und Nihilismus zerfressene Petersburger Gesellschaft mischt. Warlikowski findet für jede Figur einen eigenen, subtil ausbalancierten Ausdruck, sodass packende Konstellationen und bannende Tableaus entstehen, fast vier Stunden herrscht atemlose Spannung auf der Bühne.

Auch deshalb, weil im Graben Mirga Gražinytė-Tyla die Zügel fest in der Hand hält, Weinbergs hoch komplexe Partitur sensibel auslotet und ihren extremen Härten nicht ausweicht. Weinbergs Tonsprache ist dicht gewirkt, steht Schostakowitsch nahe, kennt Ironie, integriert Jazz-Elemente, Folklore und klassizistische Passagen und ist ungeheuer dynamisch, farbig, packend.

Das herausragend besetzte Ensemble wird überstrahlt vom idealtypischen Myschkin des Bogdan Volkov. Der an Mozart geschulte Tenor ist vielleicht eine Spur zu schlank für Weinbergs riesigen Orchesterapparat, aber gerade die lyrische Zartheit und seine darstellerische Intensität ergeben ein zutiefst berührendes Rollenporträt. Großer, verdienter Jubel für eine Pioniertat.

Regisseur Nicolas Stemann präsentiert Antikenadaption „Orestie I-IV“

Nach diesen Hitzegraden wirkt tags darauf auf der Perner-Insel Nicolas Stemanns Antiken-Projekt „Orestie I-IV“ dagegen wie ein kalter Wasserguss. Wenn man die ehemalige Industriehalle betritt, sind schon alle da. Dann kommt ein Mann auf die Bühne, Typ Motivationstrainer und sagt einschmeichelnd „Guten Abend!“ Der Mann ist Nicolas Stemann, Regisseur des Abends und Überschreiber der antiken Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus denen er einen handlichen Vierteiler gemacht hat.

Die große Barbara Nüsse tritt auf: „Ich kann nicht mehr! Zu lange muss ich schon hier warten“ ruft sie mit knorriger Stimme in den Saal. Es sind Worte des Wärters, der im Prolog zu „Agamemnon“ auf das Flammenzeichen wartet, das „den Sieg der unsrigen in Troja“ verkündet.

Theater-Trash-Schick ermüdet Publikum

Nüsse spielt wie ihre weiteren vier Kolleginnen und Kollegen viele Rollen, außerdem spricht sie wie alle, wenn der Chor gefordert ist. Kostümbildnerin Sophie Reble hat Toga-ähnliche Gewänder geschneidert, später kommt längst übergesehener Theater-Trash-Schick auf die Bühne: Hohe Hacken für Patricia Ziolkowska (Chor, Klytaimnestra, Athene, Menelaos, Helena) und für alle Pailletten, Flitterkram und alberne Perücken. Der Abend kommt nicht in die Gänge und ermüdet mehr und mehr, rutscht zuletzt ab ins Klamaukige inklusive Publikumsabstimmung à la von Schirachs „Terror“. Knappe vier Stunden dauert das, das Publikum reagiert freundlich, aber erschöpft.