Sennett über Trumps Corona-Politik„Hunderttausende werden unnötigen Tod sterben“
- Das Coronavirus wird unsere Gesellschaft grundlegend verändern, meint der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett.
- In seiner Wahlheimat Großbritannien verfolgt er die Entwicklung und vor allem die Politik von Premierminister Boris Johnson, den Sennett als Fantasten bezeichnet, mit Skepsis.
- Für Donald Trump findet er härtere Worte - und macht ihn für den unnötigen Tod von Hunderttausenden Menschen verantwortlich.
Professor Sennett, die Welt scheint im Augenblick verrückt zu spielen. Die Ereignisse überstürzen sich in der Pandemie. Wie geht es Ihnen persönlich in dieser Situation?
Richard Sennett: Wir sind jetzt schon einige Zeit in Isolation, uns geht es dabei gut. Wir gehen nicht raus, bis alles vorüber ist, nur wenn keiner auf der Straße ist frühmorgens, verlassen wir das Haus. Meine Frau und ich arbeiten zu Hause. Ich bin alt, trotzdem mache ich mir um mich persönlich nicht allzu viele Sorgen. Mir geht es gut, ich bin auch nicht infiziert.
Wie ist die Situation in Großbritannien?
Hier wird gerade diskutiert, was für einen schlimmen Fehler Großbritannien mit dem Brexit gemacht hat. Die Debatte hat in den letzten Tagen angefangen. Die Leute verstehen plötzlich, dass die Pandemie nichts mit Grenzen, Zoll oder ähnlichen Dingen zu tun hat. Die Separation von Europa wird daher stärker reflektiert in Hinsicht auf die Notwendigkeit einer Verbundenheit zu Europa und einer tiefergehenden Integration. Es ist im Gesundheitswesen offensichtlich, aber auch wirtschaftlich, denn wir haben ökonomisch eine paralysierende Situation im Vereinigten Königreich. Viele Menschen haben kein Einkommen mehr. Es gibt eine Menge Rückschritt hier im Land. Nun hat man nicht mehr viel Zeit für den Brexit.
Wie finden Sie die Politik von Boris Johnson, der ja selbst infiziert ist, in der Krise?
Er hat ja seine Position am Ende letzter Woche geändert. Zunächst war es ja nur ein freiwilliger Rückzug, den man propagierte, doch das führte dazu, dass immer mehr Menschen durch das Virus getötet wurden. Nun ist die politische Direktive hier genauso wie in Deutschland. Die Sache mit Johnson ist die, dass die Leute nicht verstehen, dass Politik ihn langweilt.
Wie bitte?
Er ist ein Selbstdarsteller, ein Performer. Er hat sein ganzes Leben nichts anderes getan, als sich irgendwie darzustellen. Als er erkannte, dass er als ein Führer in der Pandemie sein müsste, wechselte er in diese Rolle. Es gibt wirklich gute Leute, die ihn beraten, die Regierung ist vernünftig. Es ist ihre Politik, nicht seine.
Zur Person
Richard Sennett (77) befasst sich in seinen Studien und Publikationen mit Fragen des Stadtraums, der Arbeitswelt und der Kultur. Er lehrte an der London School of Economics, ist Senior Fellow an der Columbia University und Gastprofessor für Urban Studies am MIT in Cambridge. Außerdem berät er die UN bei ihrem Programm über die Folgen des Klimawandels für Städte.
Seine wichtigsten Bücher: „Vom Verschwinden der Öffentlichkeit. Die Tyrannei der Intimität“ (1986), „Der flexible Mensch“ (1998) und die Trilogie „Handwerk“, „Zusammenarbeit“, „Die offene Stadt“ (2018), die bei Hanser erschienen ist.
Johnson und Trump sind sich ziemlich ähnlich. Was halten Sie von der ursprünglichen Idee Trumps, kurzfristig die Restriktionen aufzuheben?
Das ist glatter Selbstmord. Was die Menschen bei Johnson und Trump jedoch übersehen, ist die Tatsache, dass Trump anders als Johnson ein Psychopath ist. Johnson hat vielleicht die gleichen Werte wie Trump, er ist irrational. Trump kann jedoch mit der objektiven Realität nichts anfangen. Es ist eine Tragödie für das amerikanische Volk. Es werden hunderttausende einen unnötigen Tod sterben. Trump kann nicht aufgehalten werden. Wenn Leute nicht mit ihm einverstanden sind, dann feuert er sie. Er ist ein Fall für den Psychologen, nichts anderes. Nur weil Trump es glaubt, dass es mit einer Lockerung gehen könnte, versucht er es zu tun. Johnson ist kein Psychopath in diesem Sinne, er ist mehr ein Fantast.
Könnte die Krise Trumps Ende als US-Präsident einläuten?
Das weiß ich nicht, keine Ahnung. Es ist auch möglich, dass er in zwei Wochen äußerst populär in den USA sein wird.
Zurzeit verfällt die Welt in den Panik-Modus. Ist das gefährlich?
Wissen Sie, ich weiß nicht viel über Medizin, ich weiß nicht, wie lange das dauert mit dieser Pandemie, da ich kein wissenschaftliches Wissen besitze. Was ich aber weiß, ist, dass es sehr wichtig ist, die Pandemie als etwas zu nehmen, dass die Art und Weise, wie Menschen leben, verändert. Wissenschaftlich ist es ein Virus, wie es viele andere gibt. Aber es wird die Art und Weise verändern, wie Menschen in den Städten leben. Aber es ist sehr schlecht, im Zuge dieser Pandemie eine Panik zu schüren, dass nun alles anders wird.
Ist das denn so?
Panik breitet sich immer dann aus, wenn Gerüchte kursieren und die Informationslage unklar ist. Das geschieht hier in Großbritannien, die Amerikaner haben es im hohen Maß, in Deutschland gibt es das bestimmt weniger. Es ist ein extremes Problem, das wir lösen müssen. Die Angst ist, dass Menschen in einer Panik dem Staat die Macht der Überwachung und Kontrolle übertragen, was sie in normalen Zeiten absolut ablehnen würden. Es ist sicherlich vernünftig in der jetzigen Situation, dass die Menschen zu Hause bleiben und sich nicht in Gruppen treffen sollen. Aber wenn die Krise vorüber ist mit dieser Virus-Gefahr, wenn wir die Kontrolle zurückgewonnen haben, sollten wir dem Staat diese Macht über uns nicht im alltäglichen Dasein überlassen.
Sie haben Befürchtungen, dass der Staat sich zum autoritären Modell wandelt?
Die Unterdrückung liegt sehr eng mit der Sicherheit zusammen. Wenn man sich die vergangenen Jahre in China ansieht, ist es ja durchaus vorgekommen, dass Notsituationen als Vorwand dafür genutzt wurden, um die Freiheit im öffentlichen Raum dauerhaft einzuschränken. Und nach dem Terroranschlag von 9/11 hat die Panik in den USA dazu geführt, wie sie ihre Städte ausrichten. Auch da wurde das Versammlungsrecht in den USA eingeschränkt – und viele Beschränkungen wurden weit über die Zeit der unmittelbaren Gefahr hinaus aufrechterhalten. Die Gebäude wurden endlos geprüft, ob sie bombensicher sind. Die Wolkenkratzer mussten beweisen, dass sie Flugzeug-Einschläge überstehen. In New York und anderen Orten wurden die Exekutiven deutlich schärfer, als ob sich der Terroranschlag immer wieder wiederholen würde. Wenn Donald Trump an der Regierung bleibt, könnte sich das verstetigen. Darin sehe ich die größte politische Gefahr von Corona. Der Ausnahmezustand darf nicht zur neuen Normalität werden. Das geht mir in diesen Tagen am meisten durch den Kopf: Wir müssen wachsam sein und jedem Versuch mit Misstrauen begegnen, der die Maßnahmen zur Eindämmung der Krise nutzt, um Machtpositionen auszubauen und zu verfestigen.
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Panik ist wie immer der falsche Ratgeber?
Diese panische Reaktion hat einen sehr langfristigen Effekt. Was ich nicht mag, auch nicht in vielen Medien, ist, dass man davon spricht, dass alles anders wird. Das hat einen sehr destruktiven Charakter auf all das, was passiert. Es ist die falsche Geschichte, die man erzählt.
Treten wir in eine neue Ära ein?
Ich glaube das nicht. Dinge werden sich ändern. Und wir müssen Wege neudenken, zum Beispiel über die Verkehrsmittel, so dass es nicht so überfüllt ist wie etwa in New York. Angst führt zu einer Normalisierung der staatlichen Kontrolle. Wir sollten nicht panisch werden.
Was könnte eine Folge der Krise sein?
Wozu diese Krise führt, ist eine wachsende Ungleichheit in der Art zu arbeiten. Es ist ein enormes Experiment, dass gerade durchgeführt wird, wie viele Menschen von zu Hause aus arbeiten können. Die Antwort ist: die meisten Menschen der Mittelklasse können es tun. Ich glaube, dass es eine Kluft geben wird in Bezug auf Dienstleistungen zwischen der Mittelklasse, deren Arbeit auch von zu Hause erledigt werden kann, und der Arbeiterklasse, die dazu verdammt ist, ihre Arbeit in der Nähe anderer Menschen fortzuführen. Über die Konsequenzen denke ich sehr nach. Und ich glaube, dass diese Veränderung der Arbeit massiv sein werden. Es wird deutlich mehr Mittelklasse-Arbeit geben, die individualisiert werden wird und durch Computer von zu Hause verrichtet wird.
Es gibt nun eine Änderung zwischen Nähe und Distanz. Was bedeutet das für das Leben in Städten?
Ich arbeite für die Vereinten Nationen und hierbei an einem Projekt für Städte im Klimawandel. Die Logik des Projekts ist, die Städte für diesen Wandel vorzubereiten, sie effizienter zu machen und die Menschen enger zusammen leben zu lassen. So sollen die Städte effizienter werden. Die Logik der Coronavirus-Krise ist es, genau das nicht zu tun. Man versucht die Menschen auseinander zu bringen, Distanz zu halten. So muss man das Problem anders managen. Was meine Kollegen und ich über die Städte im Klimawandel gedacht haben, muss nun in einen Dialog fortgeführt werden, wie man die Gesundheitsaspekte damit verbinden kann. Der Konflikt ist da. Man muss für die Städte Gesundheitsaspekte und Klimawandel zusammenbringen.
Wir müssen uns entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen: Mehr Nationalismus oder mehr internationale Kooperation. Wie bewerten Sie unter diesem Aspekt die EU?
Ich sage es Ihnen als ein britischer Bürger, dass die EU im Vergleich zu dem, was in UK passierte, einen guten Job macht. Was ich hoffe ist, dass die Menschen runterkommen und sich besinnen. Alles was man in der EU sieht, sieht sehr vernünftig aus. Es gibt keine Klimaleugnung wie in den USA oder in Australien. Für die Briten gilt, dass sie sich und die Briten werden die EU vermissen, Wer sich nun auf Trump verlassen will, dem sage ich: Man wird sich nicht auf Trump verlassen können.
Wie sieht die Welt nach der Krise aus?
Einiges wird sich ändern. Anderes sollte sich nicht ändern, dass wir unsere Rechte an den Staat abtreten. Ich mache mir große Sorgen darum, dass die Notfallmaßnahmen, wie sie nun überall ergriffen werden, in einigen Ländern dauerhaft installiert bleiben könnten. Wir sollten nicht verrückt werden und denken, dass die Welt völlig anders wird. Wie jede Pandemie ist auch diese ein vorübergehendes Phänomen.
Das Gespräch führte Michael Hesse