Gastbeitrag von Zukunftsforscher HorxNach Corona wird es nie wieder so wie vorher
- Die Corona-Epidemie trifft unsere Gesellschaft bis ins Mark. Die wichtigste Frage ist derzeit: Wann ist das alles wieder vorbei?
- Zukunftsforscher Matthias Horx meint: niemals. Denn unsere Gesellschaft wird durch die Krise nachhaltig verändert.
- Und darin liegt eine Chance – und vielleicht sind dann Dinge möglich, die wir sowieso verändern wollten.
Derzeit werde ich oft gefragt, wann Corona denn „vorbei sein wird“ und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt. Die Welt „as we know it“ löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können.
Dafür möchte ich eine Übung anbieten, die „Re-gnose“. Im Gegensatz zur Pro-gnose schaut sie nicht „in die Zukunft“, sondern von der Zukunft aus zurück ins Heute. Klingt verrückt? Versuchen wir es einmal: Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafé in einer Großstadt. Es ist warm, und auf der Straße bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Wie damals vor Corona? Oder sogar besser? Worüber werden wir uns rückblickend wundern?
Neue Nähe durch körperliche Distanz
Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte.
Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die das Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde sind nähergerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.
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Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Home-Office wurde für viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist. Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen.
Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonierens ohne Second Screen hervor. Auch die „Messages“ selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit. Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult.
Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, überflüssig machen. Der Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out. Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hielt sich, nach einem kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen.
Coronavirus verändert soziale Verhaltensformen
Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. Dadurch wurden die Todesraten gesenkt, und Corona wurde zu einem Virus, mit dem wir eben umgehen müssen – ähnlich wie die Grippe und die vielen anderen Krankheiten. Medizinischer Fortschritt half. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene künstliche Intelligenz hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.
Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie „Zusammenbruch“ tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es einen „Schwarzen April“ gab, einen tiefen Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent; obwohl viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.
Vielleicht wird sogar Donald Trump abgewählt
Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten. Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?
Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AfD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben.