Spazieren zur Corona-ZeitDie Krise macht uns zu Flaneuren des alten Schlages
- Wo man vorher auf schnellstmögliche Weise von A nach B gelangen wollte, ist das Gehen nun Selbstzweck geworden – mindestens einmal am Tag der Isolation entgehen.
- Dabei nehmen wir unsere Umgebung auf eine ganz neue Art und Weise wahr.
- Ähnlich, wie beim längeren Betrachten eines alten Gemäldes.
In John Hughes Komödie „Ferris macht blau“ aus dem Jahr 1986 schwänzt der Titelheld zusammen mit seiner Freundin und seinem besten Freund die Schule, um einen aus- und abschweifungsreichen Tag in Chicago zu erleben. Naturgemäß lernen die jugendlichen Flaneure dabei mehr über sich selbst und die Welt, als es ihnen die High School jemals hätte vermitteln können. Unter anderem besuchen sie das Art Institute of Chicago, berühmt für seine Sammlung an Impressionisten und Post-Impressionisten.
Gleich im ersten Moment sieht man die Leistungsverweigerer an Gustave Caillebottes Ölgemälde „Paris, an einem Regentag“ vorbeiziehen, am Schluss einer Hand-in-Hand-Girlande goldiger Grundschüler. Caillebottes Städteansicht aus dem Jahr 1877 ist 2,12 Meter hoch.
Das Paar, das dem Betrachter auf der rechten Seite des Gemäldes entgegenkommt und der angeschnittene Mann ganz rechts, den sie im nächsten Augenblick passieren werden (und der bereits seinen Regenschirm zur Seite gekippt hat, um nicht mit dem ihren zusammenzustoßen) sind also lebensgroß.
Es wirkt, als könnten Ferris Bueller und seine Freunde direkt ins Bild hineinspazieren, auf die Place de Dublin und weiter auf dem regennass reflektierenden Kopfsteinpflaster, über die großzügigen Straßen und Boulevards, die Baron Haussmann nur wenige Jahre zuvor ins mittelalterlich verwinkelte Paris geschlagen hatte.
Neue Ansichten von Altvertrautem
Caillebotte zeigt das moderne, mondäne Paris. Seine Figuren tragen die neueste Mode, und bei aller Monumentalität hat das Bild auch etwas Verspieltes: Ein Mann, der links im Bildhintergrund die Straße quert, wirkt wie ein Däumling, der gerade vom Rad der Kutsche gesprungen ist; ein Regenschirm links von der als Bildachse dienenden Straßenlaterne sieht aus, als habe er Beine bekommen; dem Mann des lebensgroßen Paares in der rechten Bildhälfte wächst eine Malerleiter aus der Zylinderkrempe. Je länger man mit dem Auge durch das Bild spaziert, desto mehr solcher perspektivischer Scherze tun sich auf.
Was uns zurzeit freilich an die eigenen Spaziergänge durch die von den Virus-Maßnahmen verkehrsberuhigte Stadt erinnert, an die neuen Ansichten der altvertrauten Umgebung. Die ergeben sich auch durch die neue Zielsetzung unserer Gänge: Wo man vorher auf schnellstmögliche Weise von A nach B gelangen wollte, ist das Gehen nun Selbstzweck geworden. Weil man wenigstens einmal am Tag der häuslichen Quarantäne entfliehen, weil der Körper bewegt werden will.
So hat uns die Krise zu Flaneuren alten Schlages gemacht, zu „Malern der Gelegenheit“, wie Charles Baudelaire die Bummelkünstler im Paris seiner Zeit umschrieben hat. Die Stadt und ihre Umgebung entstehen so vor unseren Augen neu. Oder, wie Ferris Bueller sagt: „Das Leben geht ziemlich schnell vorbei. Wenn ihr nicht ab und zu mal stehen bleibt und euch umseht, könnt ihr’s verpassen.“
Bummeln unterm Schutzschirm
Doch die zur Schau gestellte Leichtigkeit des Flaneurs verfehlen wir auf unseren täglichen Corona-Spaziergängen meilenweit. Zum einen, weil sie weder absichts- noch sorgenlos geschehen. Zum anderen, weil sie – je nach Tageszeit und Umgebung – einem Slalom gleichen, in dem wir Kurven in anderthalb Metern Abstand um die anderen Spaziergänger beschreiben und eher zu Boden blicken, als zu grüßen. Weil wir uns schämen, die eigenen Mitmenschen als Hindernisse wahrzunehmen, denen es auszuweichen gilt.
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Auch dieses Unbehagen finden wir in Caillebottes Gemälde wieder: Keiner seiner Passanten lächelt, der Mann in der Mitte hält seinen Kopf gesenkt, das Paar rechts hat die Gesichter vom Entgegenkommenden abgewandt. Ihre Regenschirme scheinen die hier Vorübergehenden nicht weniger effektiv von ihren Mitmenschen zu isolieren als die Schutzmasken uns.