Theater Köln im InternetDie Playlist der Hanna Silber
Köln – Wo ist Hanna Silber? Ihre Managerin hat die erfolgreiche Popsängerin vermisst gemeldet, allerdings erst nach einer Woche. In ihrer Wohnung an der Brüsseler Straße in Köln, trägt Kriminalkommissarin Karla Schmidt-Dinkel (Doreen Nixdorf) im herrlich ungelenken Beamtendeutsch vor, habe man nur eine leere Wohnung vorgefunden.
Ihr Ermittlungsprotokoll und andere Aussagen kann man auf der Videoplattform Vimeo – unter https://vimeo.com/hannasilber – finden. Bis Sonntag waren es 26 kurze Clips, weitere sollen in den nächsten Tagen dazukommen. Ausgedacht hat sich die Schnitzeljagd durch die Niederungen und Untiefen der deutschen Poplandschaft der in Hamburg lebende Dramatiker David Gieselmann.
Schwarze Komödie
Der wurde vor 20 Jahren mit der viel gespielten schwarzen Komödie „Herr Kolpert“ bekannt, nebenbei betreibt er noch den „Popticker“-Blog, in dem er sich immer wieder auch mit deutschem Pop und Schlager auseinandersetzt, ernsthaft, liebevoll und ohne jede Häme.
Mit „Hanna Silber“ verbindet Gieselmann nun Beruf und Leidenschaft, vor allem aber hat er als einer der ersten ein Theaterstück geschrieben, das in Form, Umsetzung und Inhalt auf die Corona-Krise reagiert.
Schauspieler von Darmstadt bis Budapest, die Gieselmann von früheren Projekten kennt, haben ihre Zeugenaussagen zum Verschwinden Hanna Silbers aus ihrer jeweiligen Quarantäne-Situation beigesteuert, sie spielen sozusagen auf der Home-Stage. Der Zuschauer kann sich auf Vimeo in beliebig geshuffelter Reihenfolge durch die Clips klicken, sie sind so lang wie Popsongs, von der zweieinhalbminütigen Hitsingle bis zum epischen Acht-Minuten-Album-track. Kurz, man puzzelt sich seine Ermittlung selbst zusammen, eine Tätigkeit, die sich in der Isolation ja neuer Beliebtheit erfreut.
War Hanna Silber suizidal? „Für jegliche Selbstdestruktion zu eitel“, befindet ihre Medienberaterin (Christina Tzatzaraki). Aber darin, dass sie einsam bis zum Verrücktwerden war, stimmen einige der Befragten überein. Etwa eine ihrer Tänzerinnen (Mariann Hole), die klagt, Hanna Silber sei zunehmend übergriffig geworden und hätte ihre Angestellten als Freunde, Trinkpartner und Mutterersatz missbraucht. Oder ihre Persönliche Assistentin (Jannike Schubert), deren Job vor allem daraus bestand, der Sängerin von Tourstopp zu Tourstopp „urbane Beschäftigungen“ und persönliche Kontakte zu organisieren, Künstlerinnen, Airbnb-Vermieter, auch Escort-Services. „Aber eigentlich hat sie obsessiv eine Freundin gesucht.“
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Eventuell hat hier aber auch die seltsame Sekte „Arcadia Synarchie“ ihre Hände im Spiel, obwohl ein vermummter Sozialarbeiter (Thomas Peters), der ein Aussteiger-Programm für Arcadia-Opfer organisiert, zu Protokoll gibt, sich in diesem Fall eher Sorgen um die Fahnder der Sekte als um Hanna Silber zu machen.
Oder weiß der Agitator Otwin von Dunkelsdorff (Martin Plass) mehr, dessen Agenda sich die Sängerin mit zwei Songs angedient hatte, in denen sie mit dem rechtsradikalen Topos vom „großen Bevölkerungsaustausch“ flirtete?
Langsam ergibt sich ein Bild: die mittelmäßige Punkband in Kiel, der Anschluss an die letzten Reste der Hamburger Schule, der Wechsel zum Majorlabel und die Hinwendung zum Schlager, der vergebliche Versuch, auch in Übersee Erfolg zu finden. Schließlich der Rückfall in seltsame Deutschtümelei und vielleicht darüber hinaus. „Sie sucht ihre Identität in einer postent-grenzten Filterblase jenseits von nationalen Denkmustern“, analysiert der Popjournalist Fritz Coburg (Mathias Znidarec), der ein „Spex“-Sonderheft zu Hanna Silber verfasst hat und nun selbstgenügsam Pizza essend im Bett lümmelt.
Im Hier und Jetzt
Freilich ist es müßig, sich über die längst darniederliegende deutsche Pop-Presse lustig zu machen. Aber der Parodie gilt glücklicherweise nicht Gieselmanns Hauptinteresse. „Hanna Silber“ spielt im Hier und Jetzt und umreißt nicht zuletzt, anhand einer um die Leerstelle „Hanna Silber“ kreisenden Krimihandlung, genau dieses. Wir erleben lauter vom Virus Vereinzelte: Fans, Manager, Musiker, Soziologen, Clubbetreiberinnen und Farbberaterinnen, die nun in ihren je eigenen Partikularinteressen schmoren.
Den irrsten Auftritt legt dabei Miguel Abrantes Ostrowski hin, der als Popexperte Dietmar Poppeling mehrfach manisch die Gasmasken und Sprachfilter wechselt. Er habe schon leichte Symptome, erklärt Poppeling, findet aber dennoch ausreichend Atem, um über das Motiv des „Nicht Da-Seins“ in der Popmusik zu philosophieren.
Für die Theater ein derzeit höchst unfreiwilliges Motiv. David Gieselmann und sein Ensemble haben einen Weg gefunden, wenigstens für einige Stunden wieder ganz präsent zu sein.