Ukrainische Künstlerin in Köln„Das Schuldgefühl ist immer präsent“
Köln – Am Morgen, als der Krieg begann, rief Bozhena Pelenska ihre Mutter an. „Ich sagte: »Mama, es ist Krieg.« Sie antwortete, dass seien wahrscheinlich nur Fake News. Aber du musstest nur das Fenster öffnen, um die Leute rennen zu sehen, und die vielen Autos.“ Und auch die Sirenen waren ja nicht zu überhören. Auf dem Markt von Lwiw und in den Geschäften herrschte Panik.
Bald mangelte es an allem. Pelenska nahm ihre zwölfjährige Tochter, stopfte Laptop und Dokumente in einen Rucksack und machte sich auf den Weg zur nahen Grenze nach Polen. „Wir haben 30 Stunden gebraucht um rüberzukommen.“
Bozhena Pelenska leitet das Jam Factory Art Center im ukrainischen Lwiw, ein interdisziplinäres, spartenübergreifendes Kunstzentrum in einer ehemaligen Marmeladenfabrik, die im 19. Jahrhundert als jüdische Destillerie gebaut worden war und die mit ihrem Turm ein wenig an ein Schloss erinnert.
Das Sommerblut-Festival
Das Sommerblut-Festival für Multipolarkultur findet bereits seit 2002 alljährlich in Köln statt, die Spielorte reichen vom Museum für Angewandte Kunst bis zur Phoenix Sauna. Die aktuelle Ausgabe startet am 6. Mai mit dem Tanzgastspiel „Happy Island“ im Depot 2 des Schauspiel Köln. Das Projekt „Face to Faith“ zeigt die Performances „Herbarium“ in der Alten Feuerwache und „iBelieve“ am Ebertplatz. Das ganze Programm finden Sie unter www.sommerblut.de
Eigentlich sollte die Jam Factory im August große Eröffnung feiern, aber das waren Friedenspläne. Ebenso wie ihre Teilnahme am EU-Großprojekt „Face to Faith“. Das hat das Kölner Sommerblut-Festival – dessen aktuelle Ausgabe am Freitag, den 6. Mai startet – vor zwei Jahren ins Leben gerufen, mit André Erlen als künstlerischem Leiter.
Es soll um Glaube gehen. Darum, wie er die Menschen verbinden, aber auch trennen kann. Aus mehr als 400 Bewerbungen wählte man sechs Vorschläge aus, darunter auch den aus der Jam Factory: Die wahre Geschichte eines Kiewer Juden aus dem 19. Jahrhundert, der fälschlicherweise beschuldigt wurde, einen christlichen Jungen getötet zu haben – und wie eine politische Partei diese Anschuldigungen ausnutzte, um eine Wahl zu gewinnen. Das Stück sollte zeigen, wie leicht man mit dem Glauben die Menschen manipulieren kann.
Das erste physische Treffen der „Face to Faith“-Teilnehmer fand in Lwiw statt, das war noch mitten in der Pandemie, die Teilnehmer aus Israel und Italien konnten nicht ausreisen, aber das Projekt kam gut voran.
Kunst als unverschämter Luxus im Krieg
Doch dann griffen die Russen an und jede Kunst erschien als beinahe unverschämter Luxus. „Du kannst nicht über Kreativität nachdenken, wenn du hilflos zusehen musst, wie deine Freunde oder deine Nachbarn sterben. Das ist so zweitrangig. Wir mussten Leben retten und schützen“, sagt Pelenska. Allein zurück in Lwiw, die Tochter hatte sie bei einer Freundin in Polen untergebracht, half sie dabei, die Büros der Jam Factory zur Unterkunft für Geflüchtete aus der Ostukraine umzufunktionieren. Auch ihre Mutter nahm Menschen bei sich auf. Inzwischen gibt es genug Unterkünfte in der Stadt und das Kunstzentrum hat seine Räumlichkeiten verschiedenen humanitären Organisationen zur Verfügung gestellt.
Das Leben in Lwiw hatte sich in der Zwischenzeit auf Krieg umgestellt. Die Männer zwischen 18 und 60 waren eingezogen worden. In der Stadt herrschte das Kriegsrecht: Ausgangssperren, Alkoholverbot. Öl und Gas limitiert. „Ich habe gelernt, die verschiedenen Arten der Bomben und des Beschusses zu unterscheiden.“, erzählt Pelenska. „Ich kann Ihnen jetzt erklären, welche Art von Bomben welche Art von Verletzungen verursacht, was als erstes zu tun ist, wenn sie explodieren.
Künstler in der Ostukraine unterstützt
Dennoch fand auch die Kunst wieder ihre Rolle: Die Jam Factory rief ein Spendenprogramm ins Leben, „Artists in War“, mit dessen Hilfe sie derzeit 14 bedürftige Künstler unterstützt, vor allem aus der Ostukraine.
Und endlich gibt es auch erste Pläne, wie man das „Face to Faith“-Projekt noch einmal völlig neu angehen könnte. „Das sind ja auch ideologische Überzeugungen, Glaubenssätze, die Menschen dazu bringen, in ein souveränes Land einzumarschieren und dort andere Menschen zu töten“, sagt Pelenska. „Das Thema ist jetzt gegenwärtiger und wichtiger als je zuvor.“
Seit einer Woche lebt Bozhena Pelenska nun schon in Köln, arbeitet vor Ort weiter am Projekt. Das Sommerblut hat für sie und ihre Tochter eine Unterkunft organisiert.
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Bald werden die ersten Ergebnisse von „Face to Faith“ auf dem Festival gezeigt (siehe Kasten) und zum Finale am 22. Mai werden sich zum ersten Mal alle Teilnehmer vor Ort treffen und auch mit dem Publikum in den Dialog treten.
In Köln scheint die Sonne. Die Menschen sitzen an den Tischen der Außengastronomien und genießen den frühen Nachmittag. Das friedliche Leben erscheint Pelenska wie ein Parallel-Universum, irreal. In ihr drin tobt der Krieg. Auf ihrem Handy ist sie noch immer mit dem Luftschutz-System von Lwiw verbunden, davon könne sie sich einfach nicht abkapseln: „Gestern sind fünf Raketen in meiner Heimatstadt eingeschlagen. Das Schuldgefühl ist immer präsent. Ich fühle, dass ich eigentlich dort sein müsste.“