Die Kölner Künstlerin Ursula (Schultze-Bluhm) wird mit einer großen Werkschau wiederentdeckt. Ihre non-binären Gegenwelten treffen den Zeitgeist perfekt.
Ursula im Museum LudwigEin Wimmelbild unerfüllter Wünsche
Der rote Mund ist wie mit dem Lineal gezogen, dafür sind die blau unterlaufenen Augen so weit geschwungen, dass sich der Schädel wie eine Zwiebel über ihnen wölbt. Auf der Brust trägt Ursula zwei kleine Pelze, dazwischen die Feder eines Pfaus. Seltsam verformt für eine Malerin ragen die Hände aus den pluderigen Ärmeln; am Kragen züngeln kleine Flammen den Hals hinauf.
So blickte Ursula Schultze-Bluhm vier Jahre vor ihrem Tod auf sich und nannte das 1995 entstandene Selbstporträt „Das bin ich. Na und?“. Das klingt heute noch trotzig und achselzuckend, ein „Ich kann nun mal nicht anders“, gemalt zu einer Zeit, in der die Kölner Künstlerin aus der Sicht von Sammlern und Museumsdirektoren ihre besten Jahre schon lange hinter sich hatte. 1992/93 stieg eine Ursula-Wanderausstellung im Kölnischen Stadtmuseum ab – nicht gerade die erste Kunstadresse ihrer Heimatstadt. Als sie starb, dankte ihr Ehemann, der Maler Bernard Schultze, in der Todesanzeige für „Deine Bilder, so wunderbar“ und für die gemeinsame Zeit: „In soviel Jahren uns gequält“.
Ursula schuf Bilder, die eine Utopie der Gegenwart sein könnten
Das hätte es sein können für dieses seltsame, riesige Werk, das nach Bernard Schultzes Tod im Jahr 2005 weiter in Vergessenheit geriet. Aber die Zeiten ändern sich. Die sogenannte naive Malerei, gemalt von „Außenseitern“ oder Autodidakten wie Ursula, findet mittlerweile ihren Platz im Kanon der Moderne, und auf der letzten Biennale von Venedig wurde die längst historisch gewordene weibliche Spielart des Surrealismus als Utopie unserer Zeit gefeiert.
Es hätte also kaum einen besseren Zeitpunkt für das Kölner Museum Ludwig geben können, um Ursula Schultze-Bluhm, künstlerisch-kurz Ursula, mit einer monumentalen Werkschau dem Vergessen zu entreißen. Die „New York Times“ berichtete bereits vorab auf einer ganzen Zeitungsseite über die Künstlerin, die schon nicht-binäre Kosmen und Geschlechter schuf, als der Begriff noch nicht in aller Köpfe war; und Museumsdirektor Yilmaz Dziewior konnte US-amerikanische Sammler, die von der Maastrichter Kunstmesse Tefaf eigens einen Abstecher nach Köln gemacht hatten, durch die halbfertige Ausstellung führen.
Tatsächlich hat man so etwas in Köln schon lange nicht mehr gesehen: fantastische Zwitter- und Zwischenwesen, blühende Traumgebilde und wuchernde Formen. Wie so viele „naive“ Künstler vor ihr hatte Ursula die Gabe, die ganze Welt in ihre Bestandteile zu zerlegen und aus der eigenen Fantasie neu aufzubauen. Sie begann bei den kleinsten Teilen, mit mikroskopischen, an Zellkulturen erinnernden Geschöpfen, die sie mit Strichen und Punkten zu fein gewebten Netzen und Teppichen verwob. Daraus entstanden surreale Nachtmahre, pflanzenbasierte Geschlechterkonstruktionen, kunsthistorische Szenen wie der männerköpfende Tanz der Salomé (der hier ein Tanz non-binärer Geister ist) oder auch mal eine bunt wimmelnde Kölner Stadtansicht.
Für ihre Kunst bediente sich Ursula aus vielen Quellen, und sie verband darin alles mit allem. In ihren Augen kann man sehen, wie sich die äußere in ihre innere Welt verwandelt. Sie sind keine optischen Linsen, sondern Wunschmaschinen, die sich freilich von der Wirklichkeit nie ganz lösen können. Alles wurde in Ursulas Augenstrudeln zu einer privaten Mythologie.
Die Kuratoren zeigen in Köln nicht weniger als 236 Werke
Die Kuratoren Stephan Diederich und Helena Kuhlmann zeigen nicht weniger als 236 Ursula-Werke und erfüllen das Soll für diese hochverdiente Wiederentdeckung damit sogar über das nötige Maß hinaus. Auf halbem Wege durch die Ausstellung, nach einem Vorspiel in den frühen Frankfurter Jahren und thematischen Stationen wie „Gedankenwelten“, „Alles fließt“ und „Türen“, hat man sich an der stilistischen Überfülle, an all den fantastischen Details, schon etwas sattgesehen.
Erst im DC Saal kommt der Appetit wieder – mit dem späten Selbstporträt, das der Schau den Titel leiht, und dem Pelzhaus, das Ursula in den frühen 1970er Jahren für die Aachener Neue Galerie entwarf. Um die mit Pelzen behängte Hütte hatte Ursula ein Heer an Puppenköpfchen gepflanzt, die, geschminkt und mit Pfauenfedern geschmückt, ausnahmsweise als weiblich zu identifizieren. Auch eine „Susanna im Bade“ malte Ursula und setzte der biblischen Frauenfigur schwarz blutende Augen in den Kopf. Am aufregendsten sind ihre Bilder, wenn sie die Geschlechtergegensätze nicht auflöst, sondern gegen sie rebelliert.
So unkonventionell sich Ursula in ihren Bildern und als Künstlerperson gab, so klassisch füllte sie ihre Rolle als Ehefrau mitunter aus. Am Vormittag erledigte sie den administrativen Teil der Künstlerehe, übernahm die Korrespondenz und führte Buch über das wachsende getrennte Werk. Erst danach ging sie ins Atelier, Seite an Seite mit Bernard Schultze, und schuf ein Werk, in dem sie den eigenen Beschränkungen in utopische Fantasien entging. Ihre Tierwesen haben in der Regel keine Geschlechtsmerkmale. Aber quälen können sie einander auch.
Das archaische Pelzhaus im DC Saal ist eine Leihgabe des Märkischen Museums Witten, was einiges über den Stellenwert der Kölner Künstlerin verrät. Selbst zentrale Werke waren über Jahrzehnte hinweg in Museumsdepots weggesperrt, man wusste mit Ursula lange einfach nichts anzufangen. Das gilt übrigens auch für das Museum Ludwig, das einen Großteil von Ursulas Nachlass besitzt (die andere Hälfte liegt beim Kölner Auktionshaus Van Ham) und die Retrospektive mit nicht weniger als 44 eigenen Werken bestückte. Der hundertste Geburtstag der Künstlerin ist vor zwei Jahren verstrichen und fiel mitten in die Corona-Pandemie. Aber für Wiederentdeckungen ist es nie zu spät.
„Ursula - Das bin ich. Na und?“, Museum Ludwig am Dom, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, 18. März bis 23. Juli 2023. Eröffnung: Freitag, 17. März, 19 Uhr. Der Katalog ist im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König erschienen und kostet 38 Euro.