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Walter Benjamins Enkelin im Interview„Es ist eine Ehre, Teil dieser Familie zu sein“

Lesezeit 5 Minuten

Das begehbare Walter-Benjamin-Memorial: „Passagen“ des Künstlers Dani Karavan am Friedhof von Portbou, wo sich der Philosoph 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm.

  1. Mona Benjamin lebt in England - auch dort sei Antisemitismus heute wieder verbreitet, sagt sie.
  2. Ihr Großvater Walter Benjamin nahm sich auf der Flucht vor den Nazis 1940 das Leben.
  3. In seinem philophischen Werk beschäftigte sich Benjamin oft mit Film und Fotografie.

Frau Benjamin, Leben und Geschichte von Walter Benjamin ist stark mit den Gewalttaten des 20. Jahrhunderts verknüpft: Vor 80 Jahren nahm sich Ihr Großvater auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn der Antisemitismus wieder zunimmt, auch in Deutschland, aber auch in ganz Europa?Benjamin: Auch hier in Großbritannien ist das über die vergangenen Jahre hinweg zu einem großen Problem geworden. Das hing ausgerechnet mit der Labour Party und Jeremy Corbyn zusammen, es war schockierend und hat mir auch Angst eingeflößt. Es macht mich außerordentlich betroffen.

Was beschäftigt Sie vor allem?

Die Art und Weise, wie sich Geschichte zu wiederholen scheint, wenn Menschen von ihren Meinungen so unbedingt überzeugt sind. Das gilt auch für Trump und seine Kommentare zu George Soros. Das wirkt auf mich, als hätten diese Leute nichts aus der Geschichte gelernt. Und was die Situation hier in Großbritannien angeht, so kann man daraus nur lernen, dass Antisemitismus und damit verwandte rassistische Konzepte nicht nur Vorstellungen sind, die der äußersten Rechten angehören. Das ist nicht der Fall.

Es war eben Labour, also die Linke, die sich antisemitisch geäußert hat …

… und die durchaus auf eine Geschichte des Antisemitismus zurückblicken kann, eine traurige Geschichte. Das geht bis in die Zeit zurück, als mein Vater, Stefan Benjamin, in dieses Land kam – es war ihm zum Beispiel nicht gestattet, in die Gewerkschaft einzutreten. Es sind viele kleine Dinge, die sich zu einem Großen und Ganzen zusammenzählen lassen.

Walter und Mona Benjamin

Walter Benjamin zählt zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. 1933 zwang ihn die Nazi-Judenverfolgung ins Exil; 1939 floh er nach Südfrankreich. In Portbou (Spanien) nahm er sich 1940 das Leben.

Mona Benjamin, geboren 1970, studierte in Oxford Literaturwissenschaft und arbeitet als Filmproduzentin. Sie lebt in London.

Walter Benjamins Großvater liegt auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Deutz begraben. Der Philosoph selbst pflegte publizistische Beziehungen zur „Kölnischen Zeitung“.

Autorin Eva Weissweiler beschreibt die Beziehung zwischen Walter und Dora Benjamin in ihrem Buch „Das Echo deiner Frage“, Hoffmann und Campe.

Womit erklären Sie sich die Zunahme des Antisemitismus?

Er ist verführerisch für Menschen, die ohnehin offen sind für Verschwörungstheorien. Es handelt sich dabei um Erklärungsversuche für Dinge, die nicht erklärt werden können. Es muss aber eine Erklärung geben, so denken diese Leute – das Coronavirus ist dafür ein gutes Beispiel. Dahinter müssen die Chinesen oder die Russen stecken; dass Pech oder mangelhafte Hygiene dafür verantwortlich sind: unvorstellbar.

Um auf Walter Benjamin, zurückzukommen. Wann haben Sie zum ersten Mal von seiner Geschichte erfahren?

Ich hatte ein Schulprojekt in Kunst, für das ich ein Thema oder eine Person auswählen musste, um ein Exposé darüber zu schreiben: Meine Cousine schlug vor, ich sollte über meinen Großvater schreiben – über den Autor von »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Es war nicht einfach, weil wir Kinder auch nicht wirklich unseren Vater kannten. Es war eine doppelte Lücke, die sich in unserem Leben auftat.

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Ihr Vater wiederum war Stefan Benjamin, der mit Adorno daran arbeitete, das Werk ihres Großvaters Walter Benjamins lebendig zu halten.

Ich kann nicht genau sagen, wie diese Zusammenarbeit aussah – was ich weiß, ist, dass mein Vater ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater und auch zu seiner Mutter hatte. Als Walter Benjamin starb, hatte er ihn über zwei Jahre nicht gesehen und Stefan war selbst bereits in Australien in einem Gefangenenlager, in das ihn die Briten interniert hatten. Die Nachricht vom Tod seines Vaters erreichte ihn lange nicht.

Walter Benjamin schrieb viel über Kunst und Fotografie, beschäftigte sich mit Paul Klee und sammelte dessen Werke – »Angelus novus« – und schrieb auch über das neue Medium Film. War das ein Erbe für Sie selbst? Sie sind Filmproduzentin geworden.

Wissen Sie, was wirklich seltsam war? »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« war tatsächlich eines der letzten seiner Werke, das ich von ihm las. Das war sehr spät, ich arbeitete längst für den Film und nahm das Buch zwischen zwei Jobs zur Hand – und war wirklich überwältigt. Überwältigt davon, dass ich sozusagen die Erfahrungen lebte, über die er so intensiv schrieb. Besonders, was den Schnitt angeht und die Perspektive. Was er theoretisch ergründete, erfuhr ich jeden Tag aufs Neue in der Praxis. Zur Filmindustrie stieß ich eher zufällig – ich wollte gerne dort arbeiten, aber im Endeffekt war es Glück. Und niemand dort ist sich darüber im Klaren, wer Walter Benjamin war. Einige Kritiker, möglicherweise.

Abgesehen von Großbritannien verhielt sich das in anderen Ländern durchaus anders.

Er war unglaublich populär in Frankreich, unter den französischen Intellektuellen, ebenso wie in Südamerika und Spanien, wo er eine große Anhängerschaft besaß. Hier, in Großbritannien, als ich aufwuchs, war es die äußerste Linke, waren es die marxistischen Intellektuellen, Leute wie John Berger und Terry Eagleton, die mit Benjamins Werk vertraut waren. Erst in den frühen 90er Jahren änderte sich das explosionsartig.

Woran lag das?

Das ist ein kleines Mysterium für mich. Zadie Smith zum Beispiel liebt seine Werke sehr, ebenso wie ein anderer wundervoller Schriftsteller, Jeff Dyer. Leute, die sich mit Jazzmusik und Film befassen …

Bedeutet die Familiengeschichte für Sie Bürde oder Inspiration?

Immer eine Inspiration. Es ist eine Ehre, Teil einer Familie zu sein, einen Namen zu tragen wie den von Walter Benjamin ebenso wie Doras (der Ehefrau Walter Benjamins, d. Red.). Eine Familie, wie wir anfangs sagten, deren Leben Teil der Geschichte war. Jedes Leben ist einzigartig, jedes Leben ist interessant, gar keine Frage – aber nicht jedes Leben ist derartig mit der Geschichte verwoben.