Berlin – Es kann weder am kommerziellen Langzeiterfolg noch an kreativer Konstanz liegen, dass David Bowie bis heute - und nun auch wieder zu seinem 75. Geburtstag an diesem Samstag - wie ein Pop-Heiliger verehrt wird.
In einschlägigen Listen mit Tonträger-Verkäufen und Umsatz-Millionen taucht der vor sechs Jahren an Krebs gestorbene Sänger nicht sehr weit oben auf, da liegt selbst der biedere Country-Barde Garth Brooks vor ihm. Bowies herausragende Arbeiten stammen fast alle aus den 1970er Jahren, danach kam manch Verwirrendes, Banales und Erfolgloses hinzu - allerdings mit „Blackstar” zum Schluss ein gefeiertes Opus magnum. Bezeichnend auch, dass der Brite für dieses Album von 2016 vier seiner fünf US-Grammys erhielt - als er schon nicht mehr lebte.
Man muss also woanders suchen, um die Einmaligkeit und den enormen Einfluss dieses am 8. Januar 1947 als David Robert Jones im Londoner Stadtteil Brixton geborenen Musikers ermessen zu können. Etwa bei seinen schillernden Bühnen-Looks und der großen (auch erotischen) Ausstrahlung. Oder bei seinem visionären Mut, sich als charismatische Kunstfigur, von Major Tom bis zum todkranken „Blackstar”-Reisenden, immer wieder neu zu erfinden. Nicht zuletzt bei seiner stilistischen Bandbreite von Pop bis Jazz, Electro bis Folk, Soul bis Avantgarde.
„Ich glaube, es liegt an Bowies künstlerischer Unruhe. Er war halt kein Rock'n'Roller, auch wenn er immer wieder so getan hat”, sagt Tobias Rüther (48), Kulturjournalist und Musikbuch-Autor („Helden. David Bowie und Berlin”) im Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Seine Neugier, sein Ehrgeiz waren schon multimedial, als das im Pop noch nicht der Standard war.”
Zudem sei der begnadete Sänger und Performer auch ein Komponist mit einzigartiger Handschrift gewesen, betont Rüther. „Denn selbst wenn ich Bowie immer eher als Popkünstler denn als Popmusiker verstehen würde: Seine großen Hits altern nicht, weil sie von Anfang an nie nach den anderen Songs im Radio geklungen haben, die dort gleichzeitig liefen.”
Wer wollte dem widersprechen? Schon die anfängliche Hit-Qualität - vom Durchbruch mit dem Weltraumdrama-Song „Space Oddity” um den tragischen Major Tom (1969) über Glamrock-Ohrwürmer wie „Changes” oder „Rebel Rebel” bis zum weißen Soul von „Young Americans” (1975) - ist atemberaubend. Es folgten mit „Station To Station” (1976) und der längst legendären Berliner Albumtrilogie rund um „Heroes” (1977) einige der kühnsten Artpop-Kunstwerke jenes Jahrzehnts.
„Er hat den Rahmen gesprengt”
„Er hat auf seine Weise die Popstar-Figur neu definiert - nämlich viel stärker als Künstler”, meint Udo Dahmen (70), Direktor der renommierten Popakademie Baden-Württemberg, im dpa-Gespräch. „Auch als Schauspieler, als Designer seiner Kostüme und ernstzunehmender Hobbymaler war er aktiv, auch das hat ihn aus dem Pop-Zusammenhang herausgehoben.” Für den Musikprofessor wird Bowie „als eine wichtige Figur der populären Kultur die Zeit überdauern. Er hat den Rahmen gesprengt, vergleichbar mit den Beatles der 'Sgt.-Pepper'-Phase.”
Dass die frühen und mittleren 70er Jahre auch charakterliche Defizite des Stars - etwa öffentliches Kokettieren mit Nazi-Symbolik und die exzessive Ausnutzung junger „Groupies” - offenbarten, wird in neueren Buchveröffentlichungen über Bowie durchaus kritisch beleuchtet. „Ich würde das der Hybris nach frühen großen Erfolgen zuschreiben”, sagt Dahmen. „Aber auch seinem Drogenproblem in dieser Zeit, so dass er die private Person nicht mehr von der öffentlichen abgrenzen konnte - was ihm später sehr gut gelungen ist.”
Auf die zeitweise suchtgeprägten, zugleich extrem kreativen 70er folgten Jahre, in denen Bowie mit dem lässigen Hitalbum „Let's Dance” (1983) zum Weltstar wurde, aber auch zum aufgeblasenen Stadionrocker. Später sagte er selbst einmal: „Sobald man zum Mainstream gehört, wird auf einmal alles leer und vollkommen hinfällig.”
Konsequent irritierend, teils ziellos waren daher die von Stilexperimenten geprägten 90er. Diese auch weitgehend erfolglose Zeit wurde gerade erst mit der opulenten Box „Brilliant Adventure (1992-2001)” in den Kontext von Bowies Entwicklung zum Außenseiter eingeordnet.
„The Next Day” und „Blackstar”
Nach dem soliden Poprock auf „Heathen” (2002) und „Reality” (2003) genoss Bowie seinen wiederkehrenden Ikonenstatus, als ihn eine Herzattacke bei einem Konzertauftritt in Deutschland aus der Bahn warf. Für mehrere Jahre zog er sich mit seiner Ehefrau, dem Model Iman, und einem gemeinsamen Kind nach New York zurück. Dann ließ die Rückkehr des 66-Jährigen mit dem auch an die Berlin-Jahre erinnernden Album „The Next Day” (2013) seine Fans aufs Neue dahinschmelzen.
Mit dem vermeintlich ersten großen Alterswerk „Blackstar” (2016) setzte der unheilbar krebskranke Bowie einen womöglich bewusst als Abschied inszenierten, rätselhaften Schlusspunkt. Sein Tod - zwei Tage nach der Albumveröffentlichung - schockte die Musikwelt wie zuvor wohl nur bei Elvis Presley, John Lennon und Michael Jackson.
Viele Tonträger und Boxsets, Biografien, Fotobände und Graphic Novels über den faszinierenden Musiker sind seither erschienen. Das Musical „Lazarus” feierte Bowies Songs, ein Sternbild wurde ihm gewidmet. Zum 75. Geburtstag am 8. Januar 2022 ehrt ihn die Deutsche Post per Sonderbriefmarke und Packset-Sonderedition. Fachleute ermitteln seinen Einfluss als Musiker, Songwriter und Stil-Pionier im Werk unterschiedlichster Stars - von Madonna und Metallica über Morrissey und Lady Gaga bis zu St. Vincent und Arcade Fire.
Immer ein wenig mysteriös
Wie konnte es Bowie bloß schaffen, trotz längerer Flauten und Pausen nie ganz weg zu sein, den Mythos eines gleichsam außerirdischen „Starman” zu bewahren? „Er hat sich eben auch mal komplett zurückgezogen, um sich neu zu definieren”, sagt Prof. Dahmen. „Und er hat sich weniger über Interviews geäußert als über Musik und Texte. Damit blieb er immer etwas mysteriös.”
Was Bowie nach dem späten Karrierehöhepunkt „Blackstar” gemacht hätte - darüber lässt sich bei einer so komplexen Künstlerpersönlichkeit zum 75. Geburtstag nur spekulieren. „Er hat ja experimentelle Phasen dann oft recht abrupt abgebrochen, um sich wieder dem Pop anzunähern”, sagt Dahmen. „Vielleicht hätte er sich nach 'Blackstar' auch einer modernen elektronischen DJ-Culture zugewendet oder sich mit einem Rapper zusammengetan. Solche Brüche und die Suche nach neuen Inspirationsquellen waren typisch für ihn.”
Auch der Berliner Experte Tobias Rüther nimmt an, dass ein gesunder Bowie bis heute fleißig geblieben wäre: „Ich gehe fest davon aus, dass er so lange neue Songs aufgenommen hätte, wie er gekonnt hätte.”
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