West Side StoryWarum Spielbergs Neu-Adaption als heißester Oscar-Anwärter gilt
Los Angeles – Robert Wises Erstverfilmung des Musicals „West Side Story“ hatte 1962 zehn Academy-Awards gewonnen. Steven Spielbergs Neu-Adaption galt deshalb lange Zeit als vermessen. Wie sollte der Starregisseur das toppen? Doch die Reaktionen auf Spielbergs Film sind fast einhellig enthusiastisch, Bei der Filmkritik-Sammelseite Rotten Tomatos verzeichnet er zur Zeit den Traumwert von 96 Prozent Zustimmung. Und unter Branchenkennern gilt der Film als absoluter Oscar-Favorit, der sogar den Rekord der alten Verfilmung einholen könnte. An diesem Donnerstag, den 9. Dezember ist „West Side Story“ in den deutschen Kinos angelaufen. Unsere Kritik.
Robeet Wise eröffnet seine Verfilmung mit Luftaufnahmen Manhattans. Von der Südspitze der Insel schwebt die Kamera in Vogelperspektive über den Wolkenkratzern Midtowns, die Diagonale des Broadways entlang, hinunter zu einem betonierten Basketballplatz, dem Habitat der Jets und der Sharks. Diese Anfangssequenz im 70-Millimeter-Format ist fast ebenso ikonisch geworden wie die Bühnenshow.
Selbstredend muss Steven Spielberg, wenn er 60 Jahre später die „West Side Story“ zum zweiten Mal verfilmt, auf sie reagieren. Wie er das tut, verrät viel über seine Neuinterpretation. Wieder schwebt die Kamera in Draufsicht, doch diesmal zeigt sie keine hoch aufragenden Gebäude, sondern grauen Bauschutt, zerbrochenes Mauerwerk und Stahlträger.
Für einen Moment denkt man an die Aufnahmen aus den Trümmern der Zwillingstürme, dann fährt die Kamera hoch, das Halbrund einer riesigen Abrissbirne füllt den oberen Teil der Leinwand, ein Baustellenschild zeigt die Zukunft, die aus den Ruinen entstehen soll: das Lincoln Center, mit dem der legendäre Stadtplaner Robert Moses die verslumte Upper West Side zur Edeladresse für reiche Weiße aufwerten wollte.
Wise zeigt, wo die Romeo-und-Julia-Geschichte zweier verfeindeter Gangs und einer Liebe unter dem Unstern ihrer Revierkämpfe spielt. Spielbergs Version ergänzt Kontext und Dringlichkeit: Das Terrain, um das die jungen Puerto Ricaner der Sharks und die weißen Abschaum-Kids der Jets streiten, ist längst verloren. Ihr hitziger Konflikt ist alles, was ihnen geblieben ist, ihr einziger Besitz.
Damit ist die große Frage, die immer wieder gestellt wurde, seit Spielberg und sein Drehbuchautor Tony Kushner vor drei Jahren ihre Neuverfilmung angekündigt hatten, bereits beantwortet. Sie lautet schlicht: Warum? Die erste „West Side Story“-Verfilmung gilt als die beste Filmadaption eines Broadway-Musicals. Warum sollte sich ein Regisseur, selbst wenn er Steven Spielberg heißt, diesen Vergleich antun?
Weite Straßen, enge Wohnungen
Weil dem Panoramablick des alten Widescreen-Films die Reibungshitze der dicht gedrängten Bühnenfassung fehlte. Spielberg und sein bewährter Kameramann Janusz Kamiński dagegen wechseln geschickt zwischen der Weite der Straßen und der Enge der Wohnungen, halten die Kamera in ständiger Bewegung, nie hektisch, stets die jeweils gesungene Zeile unterstützend.
Und es gibt noch gewichtigere Antworten auf die Warum-Frage: Weil die meisten Darsteller 1961 nicht selber singen durften. Weil die puerto-ricanischen Rollen mit wenigen Ausnahmen nicht von puerto-ricanischen Schauspielerinnen und Schauspielern übernommen wurden, sondern von dunkel geschminkten Kaukasiern mit albernen Akzenten. Weil der historische und soziologische Bezugsrahmen fehlte, die Jugendgangs der „West Side Story“ entstammten fettgedruckten Zeitungsschlagzeilen. Zuletzt, weil, trotz aller berechtigten Kritik, das Musical immer noch zu uns spricht: Rassistisch unterfütterte Kämpfe um schwindende Lebenschancen, das ist heute womöglich aktueller als 1957.
Wann wird endlich gesungen?
Im ersten Drittel der neuen „West Side Story“ fragt man sich zwar manchmal, wann endlich wieder gesungen wird. Aber bald fangen Tony Kushners – es ist nach „Munich“ und „Lincoln“ seine dritte Zusammenarbeit mit Spielberg – Überschreibungen an, sich auszuzahlen: Die puerto-ricanischen Charaktere, wie Sharks-Anführer Bernardo (David Alvarez) oder seine Freundin Anita (Ariana DeBose), wirken nicht länger wie ethnische Stereotypen, die schnell zum Messer greifen oder mit dem Rocksaum wirbeln, sondern wie echte, glaubhafte Menschen.
Die Macher der „West Side Story“ – Jerome Robbins, Leonard Bernstein, Arthur Laurents und der vor wenigen Tagen verstorbene Stephen Sondheim – waren Meister auf ihrem jeweiligen Gebiet. Aber sie waren auch vier weiße Männer, die sich die Deutungshoheit über eine Minderheit anmaßten. Sondheim bekannte später offen, dass er, als er die Liedtexte schrieb, noch keinem Puerto-Ricaner begegnet war. Spielberg gibt ihnen Handlungsmacht zurück. Unterhalten sich Bernardo, Maria, Anita oder Chino jetzt untereinander in Spanisch, wird konsequent auf Untertitel verzichtet. Schließlich ist das in den USA keine Fremdsprache.
Das könnte Sie auch interessieren:
Auch Riff, der Anführer der Jets, ist in der Neufassung mehr als nur ein jugendlicher Hitzkopf. Mike Faist spielt ihn mit so viel Hunger und Verzweiflung, es schmerzt fast, ihm zuzuschauen. Gegen Faists Intensität wirkt Ansel Elgorts Tony ein wenig farblos, zumindest so lange, bis seine Hoffnungen in Hass umschlagen und seine Liebe in Trauer. Dann zeigt sich das verwundete Tier hinter der coolen Fassade.
Doch die wahren Stars dieser Neuverfilmung sind die Frauen: Rachel Zegler hat bei Drehbeginn gerade erst ihren 18. Geburtstag gefeiert, die Maria in „West Side Story“ ist ihr Debüt als professionelle Schauspielerin und Sängerin. Es wird der Anfang einer langen, erfolgreichen Karriere sein. Da muss man sich nur die „A Boy Like That/I Have A Love“-Szene zwischen ihr und Ariana DeBose anschauen: DeBoses Anita wirft Maria vor, dass sie die Nacht mit dem Mörder ihres Bruders verbracht hat, Maria entgegnet, diese Liebe sei alles, was ihr bleibe. Zegler und DeBose singen live, und während die 1961er-Szene zwar mit schönen Hell-Dunkel-Effekten aufwartet, aber steif wie ein Opern-Duett inszeniert ist, schrauben sich zwischen ihnen die widerstrebenden Emotionen hoch, bis sie jeden einzelnen Zuschauer fest im Griff halten: Es ist ein 3D-Kino der Gefühle.
Rita Morenos große Stunde
Und dann ist da noch Rita Moreno, die Anita des ersten Films, inzwischen 89 Jahre alt. Ihr hat Spielberg die neu konzipierte Rolle der Valentina geschenkt, der puerto-ricanischen Witwe des Drugstore-Betreibers Doc aus dem Musical. Als solche ist sie nicht nur der moralische Anker des Stücks, sie trägt selbst eine Romeo-und-Julia-Geschichte in sich, und mit ihr die Gewissheit, dass es nicht zwingend tragisch enden muss. Wenn sie mit schon brüchiger Stimme „Somewhere“ singt – „Eines Tages, irgendwo, werden wir eine neue Art zu leben finden“ – ist das weniger eine Utopie, als ein Rückblick auf eine Zeit, in der mehr Miteinander möglich war.
Diese „West Side Story“ ist Rausch und Wiedergutmachung zugleich. Sie ist auch Steven Spielbergs bester Film seit „Jurassic Park“.
„West Side Story“ läuft ab dem 9. Dezember in den Kinos