Das Tagebuch des Kölner Arztes Alfred Haehner gibt Auskunft über Leben, Denken und Wahnvorstellungen des exilierten Kaisers.
„Wilhelm II. im Exil“Eine historisch-politische Lehrstunde ersten Ranges
Am 27. August 1921 traf aus Berlin im niederländischen Doorn ein Telegramm ein, das dort einen Schlossbewohner spontan in Prachtlaune versetzte: „Ilsemann erzählte mir später, dass der Kaiser bei Erhalt dieser Kunde beinahe getanzt hätte, so erfreut wäre er darüber gewesen, dass diesen Mann, den er als seinen ärgsten Feind immer betrachtet hat, das verdiente Schicksal ereilt hat.“ Nun, „dieser Mann“ war der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, ein exponierter Repräsentant der noch jungen Weimarer Demokratie, den Angehörige der rechtsextremen Geheimorganisation Consul auf einem Spaziergang im Schwarzwald erschossen hatten. Im republikanischen Lager löste der feige Anschlag Wut und Entsetzen aus – wie dann erneut die ein knappes Jahr später die Ermordung von Reichsaußenminister Walther Rathenau.
Nicht so jenseits der Reichsgrenzen, wo man, wie gehört, in Tanzstimmung verfiel. „Der Kaiser“, das war der abgehalfterte Hohenzollern-Monarch Wilhelm II., der im militärischen Zusammenbruch des deutschen Reiches, während der Novemberrevolution 1918 in die Niederlande geflohen war, wo er bis zu seinem Lebensende 1941 blieb und sozusagen im Exil „Hof hielt“ – zunächst auf Schloss Amerongen, dann auf Schloss Doorn. Von wem aber stammt die eingangs zitierte Mitteilung, die ihrerseits den kaiserlichen Flügeladjutanten Sigurd von Ilsemann zitiert?
Sie stammt vom Leibarzt des Kaisers, Dr. Alfred Haehner, der 1919 erfolgreich im Exil des Monarchen „angeheuert“ hatte, dort bis 1924 ausharrte, und über diese Zeit ein umfangreiches Tagebuch führte. Das wurde zwar von der Forschung immer mal wieder konsultiert, jetzt aber liegt es erstmals publiziert vor, und zwar in einer wissenschaftlich vorbildlichen, von instruktiven Kommentaren und Erläuterungen begleiteten Quellenedition, die die Neuzeit-Historikerin Sabine Mangold-Will im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts erarbeitete.
Haehner nimmt in seinen Notizen kein Blatt vor den Mund
Dieses (teils maschinen-, teils handschriftlich verfasste) Tagebuch hat es in sich. Haehner war als Arzt seiner abgehalfterten Majestät wie dessen ziemlich malader Ehefrau Auguste Victoria und nach deren Ableben seiner zweiten Gattin Hermine von Schoenaich-Carolath ganz nah dran nicht nur an den Krankheiten, sondern auch den Freizeitbeschäftigungen (so etwa Wilhelms fanatischem Holzhacken), den Intrigen, den Liebschaften, dem Tratsch und den politischen Diskussionen innerhalb der kaiserlichen Familie und ihrer Entourage.
Haehner nimmt in seinen Notizen kein Blatt vor den Mund, wir erleben durch ihn einen tief gekränkten Wilhelm, der die Schmach seiner Abdankung nicht verwunden hat, der jede eigene Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges zurückweist, der seine Abschiebung aus den Niederlanden befürchtet und immerzu von einer Rückkehr der Hohenzollern auf den deutschen Thron träumt; der die Weimarer Republik und ihre Politiker hasst und sich als Opfer einer Weltverschwörung von Juden, Jesuiten und Freimaurern sieht.
Warum aber sollte ausgerechnet das Tagebuch des Hohenzollern-Leibarztes die Leser eine Kölner Tageszeitung interessieren? Die Antwort: Alfred Haehner war Kölner. 1880 in Düsseldorf geboren, ging er in Köln zur Schule, studierte dann allerdings in Berlin. Wegen einer Venenentzündung endete sein aktiver Kriegseinsatz bereits im November 1914, 1916 wurde er Adjutant im Sanitätsdepartment des preußischen Kriegsministeriums. Die Verbindung zu Köln riss indes nie ab, denn 1920 heiratete er die Tochter des Kölner Architekten und Stadtbaumeisters Hermann Joseph Stübben.
Wie genau, auf welchen Empfehlungswegen Haehner nach Doorn kam, lässt sich nicht mehr genau eruieren. Erklärungsbedürftig ist allemal, dass der Arzt von sich aus bereit war, dem Ex-Kaiser fünf Jahre lang fernab seiner eigenen Herkunftssphäre auf einem kleinen Landschloss zu dienen. Die Antwort: Haehner war überzeugter Monarchist und gewann wohl auch als solcher rasch das Vertrauen der Kaiserfamilie.
Aber genauso war er auch überzeugter rheinischer Katholik. Ein Katholik im engsten Umfeld des Erz-Protestanten Wilhelm? Ganz spannungsfrei funktionierte das dann in der Tat nicht. Wenn „der Kaiser“ mal wieder nicht nur über die Zentrumspartei herzog, sondern überhaupt über den deutschen Katholizismus, diesen als romhörig und reichsfeindlich denunzierte und beschuldigte, ein protestantisches Kaisertum in Deutschland hintertreiben zu wollen, schritt Haehner ein: Es gebe viele Katholiken in Deutschland, die mit Zentrumspartei und Republik nichts am Hut hätten und ihre Exponenten vehement ablehnten.
Zu diesen Katholiken zählte Haehner sich auch selbst – anlässlich von Erzbergers Ermordung hätte er gerne, so teilte er seinem Dienstherrn mit, „zur Feier dieses Ereignisses eine Flasche französischen Sekt getrunken“. Solche Einlassungen waren allerdings nicht geeignet, die Position des Kaisers zu ändern. „Eine weitere Diskussion war über dieses Thema nicht mehr möglich, es bildet sich“, schreibt Haehner einmal resignierend, „fast rein zur fixen Idee beim Kaiser aus, dass die Katholiken ihn derart quasi verfolgen.“ Einer Wahnidee gleich kommt auch Wilhelms Vermutung, die Zentrumspartei selbst hätte Erzbergers Ermordung lanciert.
Wenn Wilhelm den Kapp-Putsch begrüßt, wird dem heutigen Leser schier schlecht
Das Tagebuch ist selbstredend vor allem seines Gegenstandes halber interessant. Wenn Wilhelm da den Kapp-Putsch begrüßt, wenn er für Deutschland eine Diktatur herbeiwünscht und mit den Juden aufgeräumt wissen will, wird dem heutigen Leser schier schlecht. Sicher gibt es auch burleske Szenen: Um die Tischmanieren des hohen Herrn etwa ist es nicht gut bestellt: Wenn ihm Dinge auf fremden Tellern gefallen, dann langt er mal kurz rüber und klaut den Gästen den Rosenkohl. Aber wichtiger ist zweifellos anderes. Unter anderem diese Frage: Vermag das Tagebuch die alte Diskussion um das Kontinuitätsproblem in der deutschen Geschichte zu beflügeln?
Nun fällt der Name Hitler im Tagebuch ein einziges Mal – anlässlich des Putsches vom November 1923, der seinen Namen trägt. Diesen Putsch hätten, so kommentiert Wilhelm bedauernd und erregt zugleich, die Jesuiten verraten. Aber es bricht eben auch schon 1924 ab – zu früh, als dass es Auskunft über die massive Verstrickung der Doorner in den aufkommenden Nationalsozialismus hätte geben können.
Aber auch so führt wohl kein Weg an der Erkenntnis vorbei – und Historiker wie Karina Urbach und Stephan Malinowski haben das auch anderweitig gut belegen können –, dass Teile des deutschen Hochadels einen massiven Link zwischen Kaiserreich und Drittem Reich formierten. Die politisch-ideologische Welt, wie sie – durch die Linse des Tagebuchs – in Doorn bereits in den frühen 20er Jahren begegnet, lässt keinen anderen Schluss zu. Und der „Geist von Doorn“ breitete sich zumal über die Kaisersöhne, denen es im Unterschied zum Vater nicht verwehrt war, sich im Reich zu bewegen, publikumswirksam in der medialen Öffentlichkeit der Republik aus. Und zu einem ihrer Totengräber wurde. Die Lektüre des Haehner-Tagebuchs gewährt in diesem Sinne eine historisch-politische Lehrstunde ersten Ranges.
„Wilhelm II. im Exil. Das holländische Tagebuch des Liebarztes der Hohenzollern Dr. Alfred Haehner 1919 – 1924“, hrsg. von Sabine Mangold-Will, Duncker & Humblot, 511 Seiten, 99 Euro.