AboAbonnieren

Kommentar

Wenig Medaillen
Deutschland hat das Leistungsprinzip abgeschafft – schon beim Schulsport

Ein Kommentar von
Lesezeit 6 Minuten
06.08.2024, Frankreich, Paris: Olympia, Paris 2024, Pferdesport, Springen, Einzel, Finale, Deutschlands Christian Kukuk zeigt nach der Siegerehrung seine Goldmedaille. Foto: Rolf Vennenbernd/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Deutschlands Christian Kukuk zeigt nach der Siegerehrung seine Goldmedaille. Warum schneidet Deutschland nicht gut bei Olympia ab?

Der Wert des Sports, abgesehen von Fußball, wird in Deutschland politisch eher gering geschätzt.

Der 8. September 1972 war einer der beeindruckendsten Tage in meinem Leben. Er begann mitten in der Nacht gegen vier Uhr, weil mein Vater und ich mit dem Bus von Stuttgart nach München fahren wollten, um beim viertletzten Tag der Olympischen Spiele dabei zu sein. Als wir den Boden der bayrischen Metropole betraten, geriet ich in den Bann einer Faszination, die mich bis heute nicht losgelassen hat.

Vier Tage nach dem Terroranschlag, bei dem elf israelische Olympiateilnehmer durch die Hand palästinensischer Attentäter ums Leben kamen, wollte ich als Junge von elf Jahren dem olympischen Geist nahe sein. Lange zuvor hatten wir Karten für die Leichtathletik erstanden, unter anderem für die Entscheidung im Zehnkampf.

Die Unbeschwertheit der ersten Tage war nach dem Anschlag einer trotzigen Abwicklung dieser Spiele gewichen. Mit dem sich selbst beschützenden Gemüt eines Kinds hatte ich die Tragik der Ereignisse einfach ausgeblendet und mich mit dem Virus infiziert, das mein ganzes Leben beeinflussen sollte. Denn der Junge schwor sich an diesem Tag: Irgendwann wirst du selbst Teilnehmer an Olympischen Spielen sein. Du musst das schaffen. Egal wie.

Olympia ist die Seele des Sports

Obwohl ich in der Jugend ein ordentlicher Leichtathlet wurde, der in den württembergischen Bestenlisten über 400 und 800 Meter regelmäßig zwischen Platz 15 und 20 auftauchte, hat mein sportliches Talent dafür bei weitem nicht ausgereicht. Also wurde ich Sportjournalist und habe für diese Zeitung von vier Olympischen Spielen berichtet. Es waren die mit Abstand bedeutendsten Ereignisse in meinem beruflichen Schaffen.

Olympia ist die Seele des Sports. Zu keiner Zeit ist er wichtiger, verbindet er mehr Menschen, fasziniert sie stärker. Deshalb verbringen Millionen Deutsche wie ich gerade täglich viele Stunden vor dem Fernsehapparat oder Endgerät, schauen uns Wettbewerbe in Disziplinen an, die außerhalb dieser Festspielzeit medial nicht existent sind, und spüren diese Sehnsucht, die sich in zwei Sätzen artikuliert: Warum können Olympische Spiele, wie sie Frankreich gerade in bezaubernder Anmut und Kraft zelebriert, nicht auch bei uns stattfinden? Und: Warum sind wir keine Sport-Nation mehr?

Olympia 2024: Die Deutschen sind zu faul, um Sport-Nation zu sein

Weil wir zu faul sind. Und weil beides miteinander zu tun hat. Die sieben gescheiterten Versuche, nach München 1972 wieder Olympische Sommerspiele nach Deutschland zu holen, waren nicht nur Folge dilettantischer bis dämlicher Bewerbungen. Sie fielen auch allesamt dem allgegenwärtigen deutschen Skeptizismus zum Opfer, der Hindernisse und Widrigkeiten nicht als Herausforderungen begreift, sondern als Stopp-Schilder.

Der Wert des Sports, abgesehen von Fußball, wird in Deutschland politisch eher gering geschätzt. Wer das nicht glaubt, soll sich die Realität des deutschen Schulsystems anschauen, in dem der Sport herumgeschubst und vernachlässigt wird. Dazu passt, dass der Sport bei uns noch nicht einmal ein eigenes Ministerium hat. Im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Italien nimmt sich bei uns Innenministerin Nancy Faeser dieses nachrangigen Bereichs eher im Nebenjob an.

Die auf jährlich 280 Millionen Euro geschrumpfte staatliche Förderung für den gesamten deutschen Leistungssport ist beschämend kümmerlich. Olympiasportler erhalten von der Sporthilfe 400 oder 800 Euro pro Monat. Ausgewählten Athleten ermöglicht allein die Unterstützung von Polizei und Zoll, dass sie wie bescheidene Profis leben können.

Kaum Medaillen in Paris: Sport wird an Schulen wenig geschätzt

Ein Ereignis aus der Schulzeit meines Sohnes hat sich mir als Schockmoment in die Seele gebrannt. Als Mitglied eines Elternausschusses, der für Sport an diesem Gymnasium zuständig war, wurde ich Zeuge, wie ein engagierter Lehrer den Vorschlag machte, die Schule solle sich dafür qualifizieren, Sport als Abi-Grundkurs anzubieten. Die Infrastruktur dafür war mit einer Dreifachhalle und einem Stadion mit sechs Tartan-Laufbahnen exzellent. Ich höre noch jetzt die Empörung in der Stimme der Rektorin, als sie den Antragsteller zurechtwies: „Ich werde nicht zulassen, dass sich jemand an meiner Schule ein Abitur zusammenturnen kann.“ Danach herrschte Totenstille. Und keiner schlug mehr etwas vor.

Ich habe daraufhin den Ausschuss verlassen und mich in der Freizeit noch mehr um das Fußballtraining meines Sohnes gekümmert. Diese privaten Anstrengungen der Eltern sind bei uns, wie fast überall auf der Welt, Rückgrat und Triebfeder des Sports, aber sie sind in Deutschland in Verruf geraten.

Armand „Mondo“ Duplantis begann als Kleinkind mit Stabhochsprung

Wer im Sport Weltklasse werden will, muss im Kindesalter beginnen. Der sagenhafte Stabhochspringer Armand „Mondo“ Duplantis, dem Paris und die Sportwelt bei seinem Rekordsprung auf 6,25 Meter am Montagabend zu Füßen lagen, hatte den Stab in der Hand, bevor er richtig gehen konnte.

Im Land des Zweifels fragt man sich, wie viel Nötigung und Zwang wir jungen Menschen antun. Wie viele Schmerzen und Tränen wir ihnen ersparen, wenn wir ihnen ersparen, Leistung bringen zu müssen. Niemand fragt, wie viel Glück und Sinn die Beschäftigung mit Sport im Leben junger Menschen stiften kann. Und deshalb wurde bei den Bundesjugendspielen das Leistungsprinzip abgeschafft.

Menschen, die so denken, haben Kindern offenbar noch nie beim Spielen zugeschaut. Es gibt immer jemanden, der gewinnen will. Es gibt kein Kind, das es verabscheut, etwas zu tun, worin es richtig gut ist. Aber es gibt bei uns zu wenige Erwachsene, die herausfinden wollen, worin ihre Kinder wirklich gut sind, zu wenige, die ihnen mit richtiger Anleitung die Chance geben wollen, ein Leben mit physischen Erfolgserlebnissen abseits der digitalen Welt zu führen. Denn das ist – auch für Eltern – mit Anstrengung verbunden. Das sollte jeder bedenken, der sich fragt, warum andere Nationen, die Leistung und Bewegung mehr lieben, bei diesen Olympischen Spielen so viel besser sind als wir.

Aus der Sport-Nation Deutschland ist eine Nation von Sport-Fans geworden

Der Medaillenspiegel ist vor allem deshalb noch gnädig zu uns, weil vier der aktuell acht deutschen Olympiasiege im Grunde genommen von Pferden errungen wurden. Deutsche Erfolge entstehen in der Regel als überragende Einzelanstrengungen an einem System vorbei, auf das sich die Athletinnen und Athleten nicht verlassen können. Deshalb ist aus der einstigen Sport-Nation Deutschland eine Nation von Sport-Fans geworden, die alle vier Jahre diese Sehnsucht nach Großem und den Neid auf andere spürt.

Die Innenministerin hat jetzt ein Dokument unterzeichnet, dass die Bundesregierung die Olympischen Spiele 2040 gerne in Deutschland haben würde. Das sind noch 16 Jahre. Genug Zeit, um zu begreifen, was dafür betrieben werden muss: Sport. Aktiv. Jetzt. Jeder soll herausfinden, worin er gut ist, worin sein Kind gut ist. Und Unterstützung einfordern. Dann wird die Welt 2040 vielleicht voller Sehnsucht auf uns blicken. Und für mich würde sich im Alter von 79 Jahren der Kreis schließen.