Düsseldorf/Höxter – Die Hinweise waren alarmierend. Die Klassenlehrerin von Daniela (Name geändert) informiert das Jugendamt Höxter am 16. April 2015 über eine besorgniserregende Veränderung des achtjährigen Mädchens. Früher sei Daniela „ein Sonnenscheinkind“ gewesen, erklärte die Pädagogin. Nun, nach den Osterferien auf einem Campingplatz, sei Daniela völlig verändert. Sie wirke apathisch und habe gerötete Augen. Das Kind klage über Beschwerden im Intimbereich. Im Schwimmunterricht wolle sie sich nicht mehr ausziehen. Daniela habe ihr, dass der neue Freund der Mutter würde sie immer „kitzeln“ würde, so die Klassenlehrerin.
Der Hinweis an das Jugendamt Höxter stammt aus den Akten des Untersuchungsausschusses des NRW-Landtags zum Missbrauchsskandal von Lügde. Ein Hilferuf, der fatalerweise keine Konsequenzen hat. Erst fast vier Jahr später wird Mario S. auf dem Campingplatz in Ostwestfalen verhaftet. Der Freund der Mutter ist einer der beiden Haupttäter in dem Missbrauchskomplex. Weil die Behörden Hinweise ignorierten, konnte sich Mario S. ist ungehindert bis zum Januar 2019 weiter an Daniela – und an 17 weiteren Opfern - vergehen.
Im Untersuchungsausschuss werden derzeit die erschütternden Details über das Behördenversagen im Jugendamt Höxter aufgearbeitet.
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In dieser Woche werden wie Vernehmungen fortgesetzt. Am Dienstag bestätigte die Staatsanwaltschaft Paderborn, das Vorermittlungen gegen das Jugendamt aufgenommen wurden. Es besteht der Verdacht, dass Akten nachträglich manipuliert wurden, um das Versagen der Mitarbeiter zu verschleiern. Derzeit werde der „tatsächliche Sachverhalt“ ermittelt, sagte Oberstaatsanwalt Marco Wibbe dem „Kölner Stadt Anzeiger“. „Dazu haben wir unter anderem die entsprechenden Akten angefordert“, so der Ermittler.
Missbrauchsverdacht wurde nicht ausgesprochen
Mario S. war der Patenonkel von Daniela und ein Freund von Danielas Vater, der selbst wegen des Missbrauchs von Kindern in Gefängnis saß. Er nutzte seine Vertrauensrolle, um dem Mädchen nahe zu kommen. „Obwohl der Verdacht des Kindesmissbrauchs wie ein blauer Elefant im Raum stand, wurde er nicht ausgesprochen und ihm ausreichend nachgegangen“, kritisiert Verena Schäffer, Fraktionschefin der Grünen, im Gespräch mit unserer Zeitung. Die in den Lügde-Skandal verwickelten Jugendämter seien alle nicht in der Lage gewesen, die „Täterstrategien zu durchschauen“.
Eine zweite Chance, Danielas Qualen zu beenden, verrinnt 2017 ungenutzt, als beim Jugendamt ein weiterer Hinweis auf sexuellen Missbrauch durch den Patenonkel eingeht. „Auch hier wurde nicht versucht, den Sachverhalt aufzuklären“, sagt Andreas Bialas, Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss. Stattdessen sei lediglich ein Kontaktverbot verhängt wurden. Weiter Schritte, oder gar eine Untersuchung der Vorwürfe, wurden nicht eingeleitet. „Die Mutter sollte eigenständig dafür sorgen, dass der Täter keinen Zugriff mehr auf das Kind hat. Mehr wurde von Amtsseite nicht veranlasst. Das war ein schwerer Fehler“, ergänzt der CDU-Politiker Dietmar Panske.
Ärzte wissen nichts vom Missbrauchsverdacht
Immerhin wird angeordnet, dass Daniela in einer psychiatrischen Fachklinik untersucht werden soll. „Dort wurde das Kind aber letztlich nicht auf Missbrauch, sondern auf eine Hyperaktivitätsstörung untersucht“, kritisiert Panske. Für den ärztlichen Befund habe sich das Jugendamt offenbar nicht weiter interessiert. Die Behörde stellte die Familienhilfe für das Mädchen und seine Mutter trotz der Hinweise auf den Missbrauch ein.
Marc Lürbke, Obmann der FDP im Untersuchungssauschuss, fordert jetzt einheitliche Standards bei den Fall-Übergaben und beim Informationsaustausch der Jugendämter. „Sogar bei internen Besprechungen redet man um den heißen Brei herum“, kritisiert der Liberale. Die Polizei habe strukturelle Konsequenzen gezogen und dem Kampf gegen den Kindesmissbrauch höchste Priorität eingeräumt. „Bei den Jugendämtern hat das Land bislang wegen der kommunalen Zuständigkeit weniger Durchgriffsmöglichkeiten“, so Lürbke. Nun müssten landesweit verbindlichere Abläufe in den Behörden geschaffen werden.
Viele Zeugen verweigern die Aussage
Der Untersuchungsausschuss hat bislang in mehr als 40 Terminen 64 Zeugen vernommen. „Wir haben immer noch nicht alle Akten, die der Ausschuss benötigt, bekommen“, kritisiert der Ausschussvorsitzende Martin Börschel. Die Kooperationsbereitschaft der Zeugen sei sehr unterschiedlich. Mehrere Zeugen mussten gerichtlich zu einer Aussage gezwungen werden. „Die zum Teil geringe Aufklärungsbereitschaft der mit den Fällen betrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist beschämend“, sagt der SPD-Politiker aus Köln.
Leid der Opfer hätte verkürzt werden können
Ein Grund für das falsche Vorgehen seien fehlende Kenntnisse im Umgang mit Missbrauchsverdachtsfällen. Bis heute mangele es an Fortbildungen für einen sicheren Umgang mit dem Thema. Der Ausschussvorsitzende ist sich sicher: „Das Leid der Opfer hätte viel früher hätte beendet werden können, wenn es nicht eine Vielzahl an Versäumnissen, Fehleinschätzungen, Kommunikationspannen und struktureller Mängel gegeben hätte.“