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Gegenentwurf zum AltenheimSenioren-WG mit Huhn und Kuh auf dem Pflegebauernhof

Lesezeit 6 Minuten
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Agnes Seibert schaut nach den Huehnern im Huehnerstall.

  1. Es ist der Gegenentwurf zum Altenheim: Auf einem Bauernhof im Westerwald kümmern sich Senioren um Garten und Tiere.
  2. Pflege-Bauernhöfe sind die Antwort auf den Wunsch vieler Senioren, den Lebensabend nicht alleine verbringen zu wollen.
  3. Wie es ist, in einer WG mit Huhn und Kuh zu leben. Ein Besuch

Wenn der Bauer Guido Pusch früh am Morgen zu den Kühen in den Stall läuft, um auszumisten, stößt der 70-jährige Karl-Heinz Degen sofort zu ihm. „Er hört mich, sieht mich am Fenster – man weiß nicht, wie, aber er ist immer gleich da“, sagt Pusch. Degen ist einer von 16 Senioren, die auf dem Bauernhof in Marienrachdorf in einer Pflegegemeinschaft wohnen und dort 24 Stunden rund um die Uhr betreut werden. In grünem Arbeitsoverall und schwarzen schweren Arbeitsschuhen sieht der hagere Rentner aber eher aus wie ein Mitarbeiter.

Mit der Heugabel schiebt er den drei jungen Rindern Stroh zu. Dann geht er zu den Hühnern im Nebenraum. 70 braun Gefiederte gackern und stieben auseinander, als er seine schweren Stiefel zwischen ihre Krallen setzt. Degen nimmt einen grünen Eimer und legt behutsam die Eier aus den Nestboxen hinein. Ohne Mühen packt er ein Huhn. In seinen Händen beruhigt sich der Vogel sogleich. Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. „Macht Spaß“, sagt er.

Degen hat auf dem Hof in Marienrachdorf im Westerwald ein neues Zuhause gefunden. Alleine ging es nicht mehr. Es bereitete ihm Mühe, sich selbst zu versorgen und Einkäufe zu erledigen. Für die schriftlichen Dinge des Lebens hat er einen Betreuer. Und überhaupt wollte der wortkarge Schlacks doch auch nicht ganz alleine sein.

Degen arbeitete einst auf einem Hof, kümmerte sich um Kälber, Kühe und Pferde, deshalb zog es ihn in diese besondere Altersresidenz – Seniorenwohnstätte und Bauernhof in einem.

Alleinleben wurde gefährlich und beschwerlich

Wie ihm geht es vielen der Bewohner. Das Alleineleben war für sie zusehends gefährlich und beschwerlich. Aber ein typisches Seniorenheim, 11 Quadratmeter, höhenverstellbares Metallbett, rollbarer Nachttisch, einquartiert mitten in der Stadt, mochten sie sich nicht als neue Bleibe ausmalen. Eine Umfrage von 2017 belegt, 90 Prozent der Bundesbürger wollen so lange wie möglich zu Hause wohnen, auch wenn sie Pflege benötigen. Und wenn sie doch ausziehen müssen, soll sich so wenig wie möglich an ihrem Leben ändern.

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Karl-Heinz Degen lebt auf dem Bauernhof in Marienrachdorf, wo die Senioren selber mitarbeiten.

Eine neue Antwort auf diesen Wunsch sind Pflege-Bauernhöfe. Hierzulande gibt es erst zwei Dutzend solcher Betriebe, die Kosten liegen in Marienrachdorf bei 1100 Euro ohne eine 24-Stunden-Betreuung, 1600 Euro muss man zahlen, wenn man eine solche Betreuung in Anspruch nehmen muss. Die gesetzlichen Krankenkassen gewähren einen Zuschuss von 214 Euro. In dem besuchten Hof im Westerwald sind zudem rund um die Uhr diverse Pflegekräfte im Einsatz, insgesamt zwölf in wechselnden Schichten.

In Schweden, Dänemark und Holland, auch in Frankreich gibt es Hunderte Höfe, die Senioren beherbergen oder tageweisen Aufenthalt anbieten. In den vergangenen Jahren ist die Zahl dort explodiert. „Es ist ein sehr innovativer Ansatz in der Pflege“, sagt Bram de Boer, Gesundheitswissenschaftler von der Universität Maastricht in den Niederlanden. Unter dem Oberbegriff „Green Care“ findet das Konzept immer mehr Nachahmer. Denn viele Senioren zieht es aufs Land. Die landwirtschaftlichen Betriebe haben etwas zu bieten, womit kein Altenheim aufwartet: Natur, Tiere und Feldfrüchte, Ruhe und in aller Regel mehrere Generationen.

Die meisten Pflegehöfe sind ihrem Ursprung nach Viehzuchtbetriebe. Der Kontakt zu Kühen, Pferden und Lämmern ist eine elementar positive Erfahrung und bereichert den Alltag, der in konventionellen Pflegeeinrichtungen oft sehr trostlos ist.

Schönheit liegt im Banalen

Der Reichtum liegt in scheinbar banalen Begebenheiten: Eine Katze, die einer Seniorin im Lehnstuhl zuschnurrt, ein Schwein, das am Gatter hochspringt, um aus Degens Hand nach Futter zu haschen. Mittags gibt es Bratkartoffeln, die auf dem eigenen Acker gewachsen sind.

Gerade bei einer Demenz bedeuten Tiere wohltuenden Kontakt zur Außenwelt und vor allem eine Begegnung ohne Angst. Denn vor den Vierbeinern muss sich niemand beweisen. Die Nähe zur Natur vermittelt Verbundenheit in der Welt und regt das Gefühlsleben an. Sie durchbricht die Einsamkeit und Monotonie im Leben vieler Senioren.

„In Altenheimen gibt es künstliche Beschäftigungsprogramme. Auf einem Bauernhof ergeben sich auf natürliche Weise jeden Tag Möglichkeiten zur Aktivität“, sagt Claudia Busch von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Holzminden. Sie hat 18 Green-Care-Höfe in Deutschland besucht. Manche Senioren füttern die Katzen auf dem Hof. Andere helfen beim Ernten von Erbsen oder Äpfeln. „Es sind vielleicht kleine Handgriffe, aber die Senioren erfahren dadurch Wertschätzung. Das Gefühl gebraucht zu werden, bestärkt sie und hält sie gesund.“

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Guido Pusch im Schweinestall

Auf keinem der Pflege-Bauernhöfe ist die bäuerliche Mitarbeit Pflicht. Karl-Heinz Degen ist der einzige der 16 Senioren, der derzeit im Stall hilft, erzählt Pusch. Die Anderen schauen nur vorbei. Für sie sind die Tiere Teil der schönen Umgebung. Sie hören und riechen das Vieh und erlebendie Natur im Rhythmus der Jahreszeiten. „Es gibt viele Senioren, die diese sinnliche Kulisse mögen, während sie zum Beispiel auf dem Balkon sitzen und stricken“, weiß Busch. Menschen, die zuvor schon gerne auf dem Land wohnten, finden auf einem Pflegehof für ihren Lebensabend wieder eine vertraute Umgebung. Sie können an Erinnerungen anknüpfen, was Menschen mit nachlassender Geisteskraft hilft, sich zurechtzufinden.

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Aber ist ein Hof der richtige Ort für sturzgefährdete, vielleicht gar demente Menschen, sorgen sich Angehörige. Schon das Kopfsteinpflaster vor dem Haupthaus der Puschs lässt sie seufzen. Und dann führt auch noch eine Treppe zu den Zimmern hinauf. Was, wenn ein verwirrter Bewohner die Stufen hinabstürzt. Rund eine Drittel aller Pflegeheime verwendet Gurte und Bettgitter, damit wirre Bewohner nicht weglaufen oder unbeaufsichtigt hinfallen.

Senioren auf Bauernhöfen sind zufrieden

Die Puschs verzichten auf solch freiheitsentziehende Maßnahmen. Wissenschaftler geben ihnen Rückendeckung. Busch glaubt: „Wenn alles scheinbar sicher und uniform mit Linoleum ausgelegt ist, dann laufen die Senioren weniger achtsam und schlurfen, statt die Beine zu heben. Ein Bauernhof mit einer abfallenden Einfahrt und Stufen bietet mehr Anreize zum achtsamen Gehen.“ Bram de Boer hat untersucht, ob Green-Care-Höfe für Menschen mit Demenz in den Niederlanden gefährlich sind. Der Psychologe sammelte Daten von 115 Senioren. „Sie stürzen genauso oft wie in anderen Einrichtungen auch“, so sein Ergebnis. „Viele denken, das ist gefährlicher, aber es stimmt nicht.“

Senioren auf Bauernhöfen sind seiner Studie zufolge sogar wesentlich aktiver und zufriedener als in Altenheimen. „Sie kommen mehr aus dem Zimmer und unterhalten sich häufiger.“ Über das bäuerliche Alltagsleben gibt es ständig Anregungen zum eigenen Tun: „Kann sein, dass sie ein Glas frische Milch trinken oder einen Tisch auf die Terrasse tragen helfen“, so de Boer. Je mehr Kontakte die Bewohner pflegten, desto zufriedener waren sie mit ihrem Leben.