Es geht um nichts Geringeres als Europas Zukunft in der Raumfahrt: Am Dienstag soll die Trägerrakete Ariane 6 zu ihrem ersten Testflug abheben. Doch erste Kunden sind schon abgesprungen.
Ariane 6Wer braucht diese Rakete überhaupt noch?
Dicke Rauchwolken umhüllen die Rakete, als sie von der Erde abhebt. Sie steigt immer höher, gewinnt immer mehr an Geschwindigkeit. Ein glühend roter Feuerschweif erleuchtet den Himmel über Französisch-Guayana am Abend des 5. Juli 2023. Einige Kilometer entfernt stehen Dutzende Menschen und filmen den Flug mit ihren Handys.
Sie wissen, das dies ein historischer Moment ist: Es ist der letzte Flug der Ariane 5, Europas Trägerrakete, die fast 30 Jahre lang Satelliten und Teleskope wie das „James Webb“ ins All transportiert hat.
Doch es geht an diesem Tag um mehr als um einen letzten Raketenflug. Es ist der Tag, an dem Europa seinen Zugang zum All verliert. Denn die Ariane 5 war bis dato das letzte und einzige europäische Transportmittel für Satelliten und andere wissenschaftliche Instrumente. Die Alternative, die Vega C, muss doch länger am Boden bleiben, nachdem ihr erster kommerzieller Start Ende 2022 missglückt war. Jetzt bleibt also nur noch die Option, Raketen anderer Ländern zu nutzen.
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„Mit dem Start der Ariane 6 schickt Europa nicht nur eine Rakete in den Himmel, sondern behauptet seinen Platz unter den Raumfahrtnationen der Welt“, erklärt die Esa. Die Ariane 6 ist ein Zeichen für internationale Zusammenarbeit: 13 europäische Länder waren am Bau der Rakete beteiligt – darunter etwa Frankreich (das Land hat den Mammutanteil an der Finanzierung getragen), Deutschland, Spanien, die Niederlande und Belgien.
Eine Dauerlösung ist das aus Sicht der europäischen Weltraumorganisation Esa nicht: „Europa muss einen sicheren und autonomen Zugang zum Weltraum erhalten, um nicht von den Fähigkeiten und Prioritäten anderer Nationen abhängig zu sein“, verkündet die Esa im Vorfeld. Diesen unabhängigen Zugang zum All soll die Ariane 6 schaffen, die Nachfolgerakete der Ariane 5. Nach mehreren Verzögerungen steht nun am Dienstag ihr erster Testflug an.
Eine Rakete in zwei Versionen
Entstanden ist eine Rakete, die es gleich in zwei Versionen geben soll: einmal als Ariane 62 und einmal als Ariane 64. Die Ariane 62 hat zwei Booster, die sie ins All katapultieren; die Ariane 64 hat vier Booster. Die Zwei-Booster-Version der Ariane 6 soll in Zukunft Nutzlasten von bis zu 10,3 Tonnen ins Weltall befördern, die Vier-Booster-Version sogar bis zu 21,6 Tonnen. Angetrieben werden beide Raketentypen mit flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff.
Generalprobe ist gut verlaufen
Den ersten Testflug am Dienstag wird eine Ariane 62 absolvieren. An Bord werden neben Satelliten auch Experimente von Raumfahrtbehörden, Unternehmen, Forschungsinstituten und Universitäten sein. „Bei dieser Mission werden wir alle Überprüfungen hinsichtlich der Fähigkeit der Trägerrakete durchführen“, erklärt Michel Bonnet, Leiter des Testflugs bei der Esa. Es geht darum, die Rakete auf Herz und Nieren zu prüfen.
Die Generalprobe Ende Juni, bei der die Rakete mit Treibstoff betankt und wieder entleert wurde, sei planmäßig verlaufen. „Die bisherigen Daten zeigen, dass unser Baby, Ariane 6, funktioniert“, sagt Lucia Limares, Leiterin der Abteilung für Raumtransportstrategie und institutionelle Starts bei der Esa. „Wir sind bereit für den Start.“ Um 20 Uhr deutscher Zeit soll die Ariane 6 vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou in Französisch-Guayana abheben.
Kann die Ariane 6 mit ihrer Vorgängerin mithalten?
„Ich habe ein sehr gutes Gefühl“, sagt Ulrich Walter, ehemaliger Astronaut und emeritierter Professor für Raumfahrttechnik, mit Blick auf den Start der Ariane 6. „Das sind erfahrene Ingenieure. Natürlich wird es kleinere Probleme geben, aber in den Orbit schafft es die Rakete sicherlich.“
Die Fußstapfen, in die die Ariane 6 tritt, sind groß. Ihre Vorgängerin hat mehr als 100 Starts erfolgreich absolviert. Auch, wenn der Anfang holperig war: Am 4. Juni 1996 war die Ariane 5 bei ihrem Erstflug zerbrochen und die Teams am Boden hatten die Selbstzerstörung einleiten müssen. „Trotzdem war sie am Ende eine extrem zuverlässige und sehr gute Rakete“, lobt Martin Tajmar, Direktor des Instituts für Luft- und Raumfahrttechnik an der TU Dresden.
Ariane 6 ist krisengeplagt
Eigentlich wollte die Esa an diesen Erfolg anknüpfen. Schon 2014 fiel die Entscheidung, Ariane 6 zu bauen. Sie sollte zum einen die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Raumfahrt sichern, indem sie noch vor dem Aus der Ariane 5 an den Start geht, und zum anderen 40 bis 50 Prozent weniger kosten.
Doch die Bauzeit verzögerte sich, technische Probleme traten auf. Der geplante Start Ende 2020 konnte nicht eingehalten werden. Auch der angestrebte Startpreis von 70 Millionen Euro war nicht machbar. Inzwischen liegt der Preis für einen Flug nach Branchenschätzungen im Bereich von 100 Millionen Euro.
Geplant ist, dass die Ariane 6 neun- bis zwölfmal pro Jahr abhebt. Rund 30 Starts hätten institutionelle und kommerzielle Kunden schon gebucht, sagt Caroline Arnoux, Leiterin des Ariane-6-Programms bei Arianespace. 18 dieser Starts entfallen auf Amazon-Chef Jeff Bezos und sein Projekt Kuiper. Ziel des Projektes ist es, Kommunikationssatelliten ins All zu bringen, die Zugang zu globalem Breitbandinternet, insbesondere in unterversorgten Regionen, schaffen sollen.
Europäische Kunden wenden sich ab
Doch es gibt auch Kunden, die sich von der Esa und ihren Partnern abwenden – so wie der europäische Wettersatellitenbetreiber Eumetsat. Er wollte seinen neuesten Wettersatelliten eigentlich Anfang 2025 an Bord einer Ariane-6-Rakete ins All fliegen, doch vor wenigen Tagen kam plötzlich die Kehrtwende: Der Satellit wird jetzt doch mit der Falcon-9-Rakete transportiert, entwickelt von Elon Musks Firma SpaceX.
„Diese Entscheidung wurde aufgrund außergewöhnlicher Umstände getroffen“, erklärte der Generaldirektor von Eumetsat, Phil Evans. „Sie beeinträchtigt nicht unsere übliche Politik der Unterstützung europäischer Partner.“ Und doch ist die Entscheidung aus Sicht von Raumfahrttechnikexperte Walter ein Zeichen dafür, dass die Firma der Ariane 6 nicht traut. „Wer weiß, ob die Ariane 6 Anfang 2025 wirklich flugbereit ist, während SpaceX verlässlich ist“, sagte er. „Das Unternehmen hat schon über 280 Flüge erfolgreich absolviert. Und bei Elon Musk kriegen sie alles viel günstiger.“
Und dann kam SpaceX ...
SpaceX hat die Raumfahrtindustrie gehörig durcheinandergewirbelt. Elon Musk einzuholen, geschweige denn zu übertrumpfen, sei „praktisch unmöglich“ geworden, meint Raumfahrtexperte Tajmar. Er selbst konnte sich die Arbeiten in der SpaceX-Zentrale in Kalifornien anschauen. Dort würden Raketen wie am Fließband produziert, sagte er. „Es ist beinahe so: Auf der einen Seite kommen die Materialien rein und auf der anderen kommt die fertige Rakete raus.“
Die Verfügbarkeit der Raketen sei stark gestiegen, so Tajmar. Allein im vergangenen Jahr waren SpaceX 96 Starts mit seiner Falcon-9-Rakete gelungen. In diesem Jahr kam ein weiterer Erfolg hinzu: Im vierten Anlauf schaffte es Musks Riesenrakete „Starship“, ihren Testflug zu beenden. Die Rakete soll Astronautinnen und Astronauten in Zukunft direkt zum Mond bringen – und vielleicht sogar irgendwann zum Mars.
Musks Erfolgsrezept sei laut Walter das KISS-Prinzip – heißt: Keep it simple and stupid. Also frei übersetzt: Halte es so einfach wie möglich. „Seine Raketen sind auf das Einfachste und Notwendigste reduziert, und daher extrem zuverlässig“, sagte er. Dadurch und durch die Massenproduktion seien sie zudem viel kostengünstiger als die der Konkurrenz.
Ariane 6 ist „nichts Neues“
Mit diesem Konkurrenten kann die Ariane 6 nicht mithalten. „Sie schaut aus wie eine alte Rakete – und ist es im Prinzip auch“, sagte Tajmar. Dass es die Rakete mit zwei oder vier Boostern gibt, sei „nichts Neues“, genauso wie dass die Oberstufe der Rakete mehrfach zünden kann, um die Satelliten an Bord in unterschiedliche Umlaufbahnen zu bringen. Auch dass die Rakete horizontal zusammengebaut wurde, sei in der Branche nicht außergewöhnlich. „Mir fällt nichts ein, was besonders ist oder neu sein sollte.“
Gleichzeitig sei die Logistik recht teuer – da rächt sich die internationale Zusammenarbeit in gewisser Weise. Wenn einzelne Bauteile über Ländergrenzen hinweg transportiert werden müssen, koste das Zeit und Geld. „Kommerziell und attraktiv ist das nicht“, meint Tajmar. „Das muss man ganz anders gestalten, indem man nicht mehr so große staatliche Strukturen hat, wo die Aufträge über ganz Europa verteilt werden.“
Nur Europa hat keine Rakete
„Die Europäer sind inzwischen im weltweiten Vergleich ziemlich abgeschlagen“, konstatiert auch Walter. Die chinesische Raumfahrtbehörde hat mithilfe ihrer Raketen bereits eine eigene Raumstation im All aufgebaut, Indien hat mehrere Typen von Raketen und lieferte im August vergangenen Jahres mit seiner Trägerrakete erstmals eine Sonde auf dem Mond ab und die USA treiben mit ihrer SLS-Schwerlastrakete eine neue Ära der bemannten Mondlandung voran. „Und Europa als eine der größten Wirtschaftsnationen hat zurzeit nicht einmal eine eigene funktionsfähige Rakete. Das kann doch nicht sein!“
Eine eigene Rakete mit Zugang zum All ist für Europa allein deshalb wichtig, weil so Sicherheitsinteressen gewahrt werden können. Da die Ariane 6 noch nicht zur Verfügung stand, gelangten die „SARah“-Aufklärungssatelliten der Bundeswehr zuletzt etwa mit einer Rakete von SpaceX ins All. „So was würden die Amerikaner niemals machen. Das ist undenkbar“, sagte Walter. Schließlich bestehe dabei die Gefahr, dass Daten und Technik ausspioniert werden.
Was, wenn der Testflug scheitert?
Die Erwartungen an den Testflug der Ariane 6 sind entsprechend groß. Auch wenn die Experten optimistisch sind, ist es jederzeit möglich, dass der Test noch einmal verschoben werden muss oder im schlimmsten Fall sogar scheitert. Letzteres würde bedeuten, dass es wieder Monate braucht, bis eine neue Rakete gebaut ist und Europa weiterhin in seiner Abhängigkeit von anderen Raumfahrtnationen verharren muss.
Der Raumfahrttechnikexperte und ehemalige Astronaut Walter geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wenn der Testflug scheitert, wäre das, glaube ich, das Ende von Ariane 6.“ Schließlich sei die Rakete schon jetzt zu teuer – und außerdem sei zu befürchten, dass noch mehr Kunden abspringen. Aber: „Selbst wenn die Ariane 6 explodieren würde, muss Europa weitermachen. Wir brauchen einen eigenen Zugang zum Weltraum.“