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Gericht hält Kudamm-Raser für MörderEin Urteil, das Geschichte macht

Lesezeit 6 Minuten

Marvin N. steht am letzten Prozesstag neben seinem Verteidiger im Berliner Landgericht.

Berlin – 17 Verhandlungstage hat es gegeben. Bis zuletzt ließ sich nur schwer einschätzen, ob das Berliner Landgericht der Staatsanwaltschaft folgt und tatsächlich zwei junge Männer lebenslang einsperrt, weil sie am 1. Februar 2016 bei einem illegalen Straßenrennen auf dem Berliner Kudamm einen unbeteiligten Rentner getötet haben. Viele Prozessbeobachter haben das für unwahrscheinlich gehalten. Es liegt nicht zuletzt auch an der Ausstrahlung des Vorsitzenden Richters Ralph Ehestädt.

Er ist ein besonnen wirkender Mann. Aber das nimmt seinen Worten nicht die Wucht, als er spricht und das Urteil gegen den heute 28-jährigen Hamdi H. und den 25-jährigen Marvin N. verkündet. „Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs“, sagt Ehestädt. Eine lebenslange Freiheitsstrafe. Da fällt es kaum noch ins Gewicht, dass auch die Führerscheine der beiden Männer eingezogen werden. Autofahren dürfen sie nie wieder.

Angeklagte können nicht glauben, was sie hörten

„Was?“, ruft eine Frau durch den Gerichtssaal. Auch den Angeklagten ist anzusehen, dass sie nicht glauben können, was sie gerade hören. Während sich die Zuschauer setzen, fährt Ehestädt fort. Nur Hamdi H. bleibt stehen. Als ob das etwas ändern könnte. Ehestädt nimmt sich Zeit für eine Vorrede. Er habe sehr wohl wahrgenommen, sagt er, dass einige den Prozess für ein Pilotprojekt der Staatsanwaltschaft gehalten hätten, bei dem die Richter angeblich gedrängt worden seien, eine Mordanklage mitzutragen. Das sei nicht der Fall. Im Gegenteil: „Es geht nicht um Härte, es geht um geltendes Recht.“

Nun gibt es ein Urteil. Nach Überzeugung der Schwurgerichtskammer haben sich die Angeklagten kurz nach Mitternacht an einer Ampel auf dem Kudamm getroffen und unterhalten. Dabei haben sie ein Rennen verabredet. Nicht unbedingt mit Worten. Hamdi H. raste davon, Marvin N. folgte. Erst hielt er an zwei roten Ampeln. Dann stieg er in das Rennen ein. „Der eine hat gereizt, der andere hat sich reizen lassen“, sagt Ehestädt. Damit ist Marvin N. Mittäter, obwohl sein Wagen den des Rentners gar nicht getroffen hat.

Gleichgültigkeit rechtfertigte bedingten Tötungsvorsatz

Richter Ehestädt nimmt sich Zeit, um den bedingten Tötungsvorsatz zu begründen. Denn das ist der wesentliche Punkt des Urteils. „Die Angeklagten haben es billigend in Kauf genommen, dass jemand stirbt“, sagt Ehestädt. Sie hätten gewusst, was sie tun und trotzdem weiter gemacht. Es sei ihnen vollkommen klar gewesen, dass auf einer Hauptverkehrsstraße auch nachts ein Risiko bestehe, einen Menschen zu töten. Schon diese Gleichgültigkeit rechtfertige den bedingten Tötungsvorsatz.

Ehestädt beschäftigt sich mit den Persönlichkeiten der beiden Männer. Autoverliebt, Schnellfahrer, die das Selbstwertgefühl mit ihren Kfz steigern. „Protzer, die unbedingt Selbstbestätigung brauchen“, sagt Ehestädt. Beide Angeklagten haben bereits eine Vielzahl von Verkehrsdelikten begangen. Gegen das Urteil ist Revision beim Bundesgerichtshof möglich. „Wir werden Rechtsmittel einlegen“, verkündet die Verteidigung.

Bis zu fünf Jahre Haft für „fahrlässige Tötung“

Es lohnt, die Rechtslage genau zu betrachten. „Rennen mit Kraftfahrzeugen sind verboten“, heißt es in der Straßenverkehrsordnung. Dazu zählen nicht nur Wettbewerbe mit Zielmarkierung, sondern auch informelle Rennen. Wer an einem solchen Rennen teilnimmt – verabredet oder spontan – begeht eine Ordnungswidrigkeit und riskiert ein Bußgeld von 400 Euro.

Sobald es dabei zu einer konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer kommt, was eher die Regel sein dürfte, liegt eine Straftat vor. Die „Gefährdung des Straßenverkehrs“ wird laut Strafgesetzbuch mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu fünf Jahren bedroht. Als Tathandlungen nennt das Gesetz etwa die rücksichtslose Missachtung der Vorfahrt, falsches Überholen oder zu schnelles Fahren an unübersichtlichen Stellen.

Wenn bei einer rücksichtlosen Fahrt jemand stirbt, gilt dies zumindest als „fahrlässige Tötung“. Dabei kann der Tote ein Fußgänger sein, ein Radfahrer, ein unbeteiligter Autofahrer oder ein Beifahrer im eigenen Fahrzeug. Auch hier drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis oder Geldstrafe. Früher kamen die Täter meist mit Bewährungsstrafen davon. Aber die Gerichte werden strenger. Das Landgericht Köln hat im Vorjahr einen 27-Jährigen zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Er war mit einem BMW durch die Kölner City gerast. Dabei hatte er einen Radfahrer erfasst, der später starb. Der BGH bestätigte das Urteil.

Diskussion über Gesetzesverschärfung

Ein neuer Trend in der Justiz ist es, bei Rasern keine fahrlässige Tötung, sondern ein vorsätzliches Tötungsdelikt anzunehmen. Dabei genügt bedingter Vorsatz, wenn die Täter den Tod von Passanten billigend in Kauf nehmen. Es ist also nicht erforderlich, dass die Raser gezielt Todesfälle anstreben. Bei Totschlag drohen mindestens fünf Jahre Haft.

In einem Fall aus Bremen hatte die Staatsanwaltschaft sogar wegen Mordes angeklagt. Ein 24-jähriger Motorradfahrer fuhr viel zu schnell und kollidierte mit einen Betrunkenen, der bei Rot über die Ampel ging. Der Fall war spektakulär, weil der Biker seine halsbrecherischen Fahrten oft mit einer Helmkamera filmte und als „Alpi“ bei Youtube einstellte. Das Gericht ging von einer fahrlässigen Tötung aus, der Raser habe Tote nicht „billigend“ in Kauf genommen. Urteil: zwei Jahre und neun Monate Haft.

Unterdessen wird über eine Verschärfung der Gesetze diskutiert. Im September beschloss der Bundesrat auf Vorschlag von NRW einen Gesetzentwurf. Danach soll im Strafgesetzbuch ein neuer Paragraf 315d die Teilnahme an „verbotenen Kraftfahrzeugrennen“ mit Haft bis zwei Jahren oder mit Geldstrafe bedrohen. Auf Unfälle oder konkrete Gefährdungen käme es dabei nicht an. Die vorgeschlagene Verschärfung müsste vom Bundestag beschlossen werden, der aber über den Entwurf noch nicht beraten hat. Ende letzten Jahres hat Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) einen eigenen Gesetzentwurf zum gleichen Thema angekündigt. Er befindet sich aber immer noch in der Ressortabstimmung mit Justizminister Heiko Maas (SPD). Wie es scheint, gibt es Unstimmigkeiten zwischen den Ministerien.

Mildere Strafen in Kölner Fällen

Illegale Autorennen haben in Köln in den vergangenen Jahren viele Verletzte mehrere Menschenleben gefordert. So wurde noch im Juli 2016 eine 66 Jahre alte Frau schwer verletzt, die mit ihrem Mann auf der Venloer Straße unterwegs war; einer von zwei Männern aus Pulheim, die sich dort ein Rennen lieferten, rammte mit seinem Wagen den der Rentner.

Deutlich geringer fiel die Strafe im Fall eines illegalen Autorennens auf dem Auenweg in Mülheim aus. 2016 wurden Erkan F. und Firat M., 23 und 22 Jahre alt, wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen von zwei Jahren sowie einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Eine 19-jährige Radfahrerin kam bei dem Unfall im April 2015 ums Leben, weil Erkan F. sie mit seinem BMW umgefahren hatte.

Ein weiterer Raser-Prozess in Köln endete mit Bewährungsstrafen bis zu einem Jahr und vier Monaten: Zwei 19-Jährige hatten sich im März 2015 ein Rennen auf der Aachener Straße geliefert. Einer der beiden ignorierte eine rote Ampel, sein Ford krachte gegen ein Taxi. Ein 49-jähriger Fahrgast kam ums Leben.

Im März 2001 ereignete sich ein Raserunfall, der sich ins kollektive Kölner Gedächtnis einbrannte: Stephan Schramma, der damals 31 Jahre alte Sohn des früheren Oberbürgermeisters Fritz Schramma, wurde mitten in der Stadt – am Rudolfplatz – von einem Raser getötet. Die von vielen als zu mild empfundene Strafe der Richter: zwei Jahre Haft auf Bewährung. Fritz Schramma und seine Ehefrau Ulla gründeten in der Folge die Stiftung „Opferhilfe“. (bce)