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Dornröschen auf ZeitWarum Felix mehrere Wochen am Stück schläft

Lesezeit 8 Minuten
Symbolbild Dornröschen dpa

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  1. Felix ist ein ganz normaler Teenager. An seinem 18. Geburtstag erkrankt er plötzlich am Kleine-Levin-Syndrom.
  2. Die Erkrankten schlafen oft wochenlang und bekommen nichts von ihrer Außenwelt mit.
  3. Felix ist lange auf der Suche nach der richtigen Diagnose. Nebenbei kämpft er um sein Abi – und um seinen Traumberuf.

Köln – Felix’ Wecker hat schon immer viel Ausdauer gebraucht. Der Schüler aus Leverkusen ist abends oft lange wach, und am nächsten Morgen für die Schule aufstehen, die ihn gerade ohnehin nicht interessiert, das fällt schwer. Dann kommt Felix’ 18. Geburtstag. Volljährig, endlich. Bei seiner Feier an einem September-Wochenende im Jahr 2013 fließt viel Alkohol – vielleicht ein wenig zu viel. Und am darauffolgenden Montag bekommt Felix’ Mutter Sandra (alle Namen geändert) ihren Sohn kaum mehr aus dem Bett. „Meine erste Vermutung war, dass mir jemand etwas ins Glas getan hat. Aber der Bluttest war negativ“, erzählt Felix heute. Natürlich war er das. Denn was Familie S. nach einer wahrhaftigen Ärzte-Odyssee zweieinhalb Jahre später herausfinden soll, kann kein Bluttest belegen.

Noch nicht jedenfalls. Und Felix’ Wecker wird fortan noch verzweifelter klingeln und rattern für jeden Versuch, ihn aus dem Schlaf zu holen. Denn Felix leidet am sogenannten Kleine Levin-Syndrom (KLS), das ihn inzwischen zwei bis drei Mal im Jahr in eine andere, eigene Welt verschwinden – und einschlafen lässt – für vier, für zehn, für 14 Tage. Das weiß vorher niemand so genau. Weder Felix, noch seine Ärzte.

Weltweit weniger als 1000 Betroffene

Felix’ Krankheit wird deshalb auch „Dornröschen-Syndrom“ genannt. Die Betroffenen stehen nur zum Essen und für den Toilettengang auf. So auch Felix. Wie in einer Art Trance gefangen legt er sich anschließend wieder hin, fällt wieder in einen Dämmer-Schlaf. Weniger als 1000 Menschen sollen von dieser Krankheit weltweit betroffen sein, die Diagnose ist oftmals schwierig.

Wer Felix trifft, erwartet vielleicht irgendein Zeichen. Dass man ihm ansieht, dass er KLS hat. Normaler als Felix aber kann ein 23-Jähriger vermutlich nicht sein. Ab und an bestellt er sich Pizza beim Lieferdienst, trinkt mit Freunden ein Bier, noch nicht einmal eine klitzekleine Allergie hat er. Kerngesund.

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Als die Krankheit bei Felix ausbricht und er noch nichts von der Diagnose ahnt, ist er gerade in den letzten Zügen vor dem Abitur. „Meine Noten waren nicht gut, aber ich hätte den Abschluss wohl geschafft“, sagt Felix. Stattdessen schläft er im Unterricht ein, bei einem strengen Lehrer, bei dem er sich das niemals erlaubt hätte. Felix wüsste noch nicht einmal von diesem Vorfall, hätten seine Mitschüler ihm nicht davon erzählt. Denn Felix kann sich nicht erinnern.

Mathe-Klausur wie weggewischt

Er wüsste auch nicht, warum er nur 17 von 120 Punkten in der Matheklausur erreicht hat. Hätte er nicht schwarz auf weiß, dass er offenbar irgendwann in der Prüfung damit begonnen haben muss, Smileys auf das karierte Papier zu malen. „Felix ist dann wie ein Lichtschalter. Er ist eine komplett andere Person, wenn man ihn umlegt“, sagt Mutter Sandra. Im Dezember nach seinem 18. Geburtstag will er von seiner Freundin nach Hause fahren. Zu Hause kommt er nicht an. Felix fährt vor eine Leitplanke: das Auto hat einen Totalschaden, dem jungen Leverkusener passiert zum Glück nichts. Er ruft seine Mutter an, die wenig später im Krankenhaus eintrifft. Wenig später, aber zu spät. Felix kann sich nicht mehr an den Unfall erinnern.

„Unser Hausarzt hat uns zuerst zu einem Psychologen geschickt. Mein Mann und ich haben uns in der Zeit getrennt. Da macht man sich als Mutter natürlich Sorgen, dass sich die Probleme auf das Kind übertragen“, erzählt Sandra S. Ein Jahr lang trifft sich Felix mit dem Psychotherapeuten, der eine Depression ausschließen kann. Gemeinsam hätten sie „alles aufgearbeitet, was den Jungen in irgendeiner Form beschäftigt“.

Und trotzdem: Weiterhin hat Felix diese Episoden, in denen er viel schläft. Nur funktioniert. Nicht reagiert, nicht interagiert. Es folgen Besuche beim Epileptologen, sogar bei einem Herzspezialisten und der Jugendberatung, beim Neurologen, der Felix ohne Diagnose ein Medikament verschreiben will. Auch einen Intelligenztest soll Felix machen. „Viele Ärzte haben mich nicht richtig ernst genommen. Die Begründung lag oft darin, ich wäre eben ein verbockter, fauler Jugendlicher.“

Was letztlich Klarheit bringt, ist ein Freund von Felix, der durch Zufall ein Bild auf Facebook sieht. Auf dem steht sinngemäß: „Das Kleine-Levin-Syndrom ist eine seltene Krankheit, bei der Betroffene mehrere Wochen lang schlafen.“ Die Familie beginnt zu Googeln. Stößt auf Berichte aus Amerika, Felix’ Mutter übersetzt sogar einen japanischen Bericht. Die Symptome stimmen. Und ein Schlafmediziner, an den ihn das Zentrum für seltene Erkrankungen in Bonn verweist, bestätigt schließlich: Es ist KLS. „Das war wie ein Befreiungsschlag für uns. Endlich hatte das Kind einen Namen“, denken Mutter und Sohn heute noch – nach über zwei Jahren Ungewissheit.

Berufswunsch geplatzt

Nach der Schule will Felix S. Polizist werden. Aber ein Polizist mit Kleine-Levin-Syndrom? Undenkbar. Hinzu kommen die Sorgen mit Eltern, Freundin, Abi. Letzteres schafft Felix dann tatsächlich im zweiten Anlauf – noch weit vor der Diagnose. Aber: „Das war wirklich die heftigste Phase für mich. Ich habe mich immer gefragt, warum gerade ich? Das wünscht man wirklich keinem, dass das Leben zeitweise komplett ohne dich stattfindet.“

Felix muss kurz schlucken, während er im Kopf all diese Monate im Schnelldurchlauf durchzuspulen scheint. Monate, die in ihm schließlich Suizid-Gedanken auslösen. Er ist gefangen mit einer Krankheit, die er nicht steuern kann.Felix streckt die Hand aus. Sie zittert, so, wie sie es jeden Tag tut. „Das sind die Nebenwirkungen.“ 20 von 25 Patienten soll ein Medikament mit Lithium dabei helfen, dass sie keine Episoden bekommen, nicht wochenlang schlafen, stattdessen nur einen Tag müde und träge sind. Bei Felix hilft das nicht. Aber: Die Abstände zwischen den Episoden – „Phasen“ wie Felix sie nennt – werden größer. Durchschnittlich zwei Mal pro Jahr muss Mutter Sandra noch sagen: „Er ist wieder unter uns“. Denn so nennt sie es, wenn Felix aus seinem Schlaf erwacht.

Was Felix macht, wenn er während der Schlafepisode aufsteht? Träumt er, wenn er die Augen wieder für mehrere Stunden und Tage schließt? Felix hat auf all diese Fragen keine Antwort. Während einer Episode ist er vom alltäglichen Leben komplett abgeschottet, kein Internet, kein Fernsehen, kein Handy. Sogar Weihnachten hat er schon einmal verschlafen. Den WhatsApp-Messenger nennt Mutter Sandra deshalb ihren „besten Freund“. Denn indem sie morgens schauen kann, wann ihr Sohn zuletzt online war, weiß sie, ob er wach ist – oder ob sie zu ihm fahren und dafür sorgen muss, dass er isst, seine Tabletten nimmt, duscht.

Auszug trotz langer Schlaf-Episoden

Dass Felix von zu Hause ausgezogen ist, konnte seine Krankheit nicht verhindern – denn damals wusste er noch gar nichts von dem seltenen Syndrom. Trotzdem ist es dem Leverkusener ein Dorn im Auge, das seine Mutter sich um ihn kümmern muss, obwohl er erwachsen ist. „Ich empfinde das als Riesen-Belastung, dass sie nie Urlaub hat von all dem. Sie jeden Morgen aufs Handy gucken und mich anrufen muss“, sagt Felix. Sandra S. tut das mit einer Handbewegung ab. Man mache sich als Mutter immer Sorgen. Von der Krankheit ihres Jungen spricht sie fast so nüchtern, als ginge es darum jemandem zu erklären, wie man Schnürsenkel bindet. „Wir können es eben nicht ändern. Wir lassen uns nicht unterkriegen.“

Eine winzige Hoffnung bleibt Felix und seiner Mutter. Denn: bei den meisten Patienten dauert die Krankheit acht bis zehn Jahre an, dann verschwindet sie genauso schnell wieder, wie sie gekommen ist. „Ich will mir nicht allzu große Hoffnungen machen, falls es nicht so ist. Und im Vergleich zu anderen Patienten, bei denen die Schlafphasen viel länger dauern, hat es mich schließlich auch noch gut erwischt. Ich fände es zum Beispiel viel schlimmer, blind zu sein oder im Rollstuhl zu sitzen“, sagt Felix. Und: Niemals hätte er ohne KLS so ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter.

Ja, KLS helfe ihm sogar dabei zu erkennen, wer einen Platz in seinem Leben verdient hat, und wer nicht. „Die Krankheit pflegt Beziehungen. Ich bin sozialkompetenter und kritikfähiger geworden.“ Abgesehen vielleicht von Verabredungen, schmunzelt Felix. Denn beginnt dann wieder eine Schlafepisode, kann er seinen Freunden natürlich nicht mehr absagen.

Was er anderen sagen würde, die wie er von der Krankheit betroffen sind? „Mein Beispiel zeigt ja, dass man trotz der Krankheit ein halbwegs normales Leben führen kann. Man darf nur den Mut nicht verlieren. Es gibt immer Leute, die einem herzlich begegnen.“ Felix arbeitet als Versicherungskaufmann. Seinen Arbeitgeber hat er gegen den Willen seiner Eltern eingeweiht, wollte mit offenen Karten spielen. „Und es haben alle Verständnis dafür“, sagt der 23-Jährige. Sein Traum ist es, eines Tages als Psychologe zu arbeiten – ein Berufsfeld, mit dem er durch seine eigenen Erfahrungen nun bestens vertraut ist. Er will anderen helfen. So, wie er es auch im Austausch mit anderen tut, die er durch ein Netzwerk für Kleine-Levin-Patienten kennengelernt hat.Felix hält inne. Er hat seine Geschichte zu Ende erzählt. „Melden Sie sich, wenn es noch Fragen gibt“, sagt er und fährt lachend fort: „Es kann nur mal ein oder zwei Wochen dauern, bis ich antworte.“