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Charlotte Roche im Interview„In Köln haben Radfahrer Todesangst vor Autofahrern”

Lesezeit 17 Minuten
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Spricht offen über Sex, Liebe, Beziehungsprobleme – und ihre Wahlheimat Köln: Charlotte Roche

  1. Zwanzig Jahre lang wohnte Charlotte Roche im Agnesviertel, bis sie vor drei Jahren mit ihrem Mann, zwei Kindern und Hund an den äußersten Stadtrand zog.
  2. In der Innenstadt habe sie es nicht mehr ausgehalten, sagt sie und erzählt vom Parkplatz-Krieg im Agnesviertel und dem Moment, als ihr ein Radfahrer „Du Fotze” hinterher schrie.
  3. Im Interview spricht sie darüber, was sie an Köln nicht leiden kann und liebt, warum sie beim Ebertplatz an Schamhaar-Rasuren denken muss und von der härtesten und schönsten Arbeit überhaupt: der Liebe.
  4. Denn derzeit läuft auf Arte die Serie „Love Rituals”, für die Charlotte Roche sich auf fünf Kontinenten Liebesrituale erklären lässt.

Köln – Als Viva-Zwei-Moderatorin wurde sie bekannt, als Bestseller-Autorin („Feuchtgebiete“) berüchtigt: Jetzt macht Charlotte Roche mehr und mehr als Liebes-Expertin von sich reden. In dem Spotify-Podcast „Paardiologie“ spricht die 41-Jährige mit ihrem Ehemann Martin Keß, Mitbetreiber der Kölner Kaffeerösterei Van Dyck, sehr offen über Probleme in der Beziehung, Affären und Paartherapie. Und für die sechsteilige Arte-Serie „Love Rituals“ (Start: 28. August) ist sie in fünf Kontinente gereist, um nach der Liebe zu suchen. Zeit für ein Gespräch über das wichtigste Thema der Welt im Café „Dein & Mein“ an der Agneskirche – und natürlich über Köln.

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In Japan hat Charlotte Roche die traditionelle Penis-Parade besucht.

Frau Roche, grooven wir uns locker ein in Sachen Liebe. Ich sage Ihnen ein paar Liedzeilen und Sie sagen mir Ihre Meinung. All you need is love (Beatles)!

Nö. Vor allem Frauen sollten nicht so blauäugig sein und solche romantischen Sätze glauben, weil sie viel mehr von Altersarmut bedroht sind als Männer. Auch im Jahr 2019 sind es die Frauen, die in der Blütezeit ihres Lebens die Karriere wegen Kindern aufgeben, dafür nicht bezahlt werden damit auch nicht fürs Alter sparen können. Und dann bekommt der Mann eine Midlife Crisis und nimmt sich eine jüngere Frau, womit die ältere Frau in den Arsch gekniffen ist. Ich finde ja, alle Frauen, die wegen Kindern zu Hause bleiben, haben das Recht, ihren Männern so viel Geld zu klauen, wie sie nur können. Hamstern für die Rente. Weil: You also need Rente!

Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe. (Die Ärzte)

Richtig. Und das trifft nicht nur auf die in dem Lied besungenen Nazis zu. Ich will Menschen, die in Beziehungen gewalttätig sind, keinesfalls freisprechen. Aber jeder Täter ist irgendwann Opfer gewesen. Und keiner ist gerne ein Arschloch. Die ersten Kämpfe, die mein Mann und ich hatten, waren zumindest verbal auch gewalttätig. Ich habe sogar mit Gegenständen geschmissen, wobei zum Glück niemand im Krankenhaus gelandet ist. Das war mein stummer Schrei nach Liebe damals.

Liebe ist nicht das, was man empfindet. Liebe ist das, was man tut. („Rettung“, Kettcar)

Kommt drauf an. Mein Mann hätte, nachdem ich ihn betrogen habe, sagen können: Es ist mir egal, wenn du sagst, dass du mich liebst, weil deine Taten es nicht zeigen. Aber er hat mir immer wieder neue Chancen gegeben und an mich geglaubt. Ich habe immer Mitleid mit Leuten, die unzulänglich sind oder verlassen werden für Fehler, die sie machen. Schlechtes, eifersüchtiges, ängstliches Benehmen abzulegen, das erfordert Therapie und dauert Jahre. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass sich eine Frau jahrelang von ihrem Mann schlagen lassen muss, nach dem Motto: Der wird sich schon ändern. Nein, das ist gefährlich.

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Charlotte Roche beim Gespräch im Café „Dein & Mein” im Agnesviertel. Dort wird auch der Van Dyck-Kaffee ihres Mannes serviert.

„Et jitt kei Wood dat sage künnt wat ich föhl, wenn ich an Kölle denk.“ (Cat Ballou)

Ich habe richtige große Gefühle für Köln. Aber natürlich nur für die Leute und nicht dafür, wie die Stadt aussieht. Die Menschen sind schön. Die Stadt: geht so. Aber wenn sich dann ein Hamburger darüber lustig macht, wie hässlich Köln ist, werde ich richtig aggressiv innerlich. Da merke ich dann die Lokalpatriotin in mir. Ich als Engländerin fühle so: Wir Kölner können nichts dafür, dass die Engländer bei uns alles kaputt gemacht haben und alles mit Kacheln wieder aufgebaut wurde.

Sie haben uns ein Denkmal gebaut. Jeder Vollidiot weiß, dass das die Liebe versaut. (Wir sind Helden)

Das kann ich total bestätigen. Genau diesen Gedanken hatte mein Mann, als ich meinem Fremdgehen aufgeflogen bin: dass wir jetzt ab sofort ein normales Paar sind mit normalen Problemen. Wir sprechen darüber viel im Podcast. Ich finde es zerstörerisch, wenn andere über einen denken: Das ist das tollste Paar der Welt. Oder wenn man es selbst denkt. So etwas kracht ganz leicht zusammen – wie in der Truman-Show.

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Das schönste Liebeslied aller Zeiten?

„Your Love Is My Love“ von Whitney Houston.

Und die schlimmste Liebesschnulze?

„Lemon Tree“ von Fools Garden.

Welchen Fehler sollten Liebesliedschreiber bitte nicht mehr machen?

Ein gutes Liebeslied muss möglichst weit weg vom Klischee sein.

Sind Liebeslieder auf Deutsch besonders häufig misslungen?

Rio Reiser, der konnte das. Revolverheld kann eher nicht. Ich finde ja auch englische Liebeslieder oft haarsträubend. Als Engländerin würde ich gerne auf einer Bühne mal englische Liebeslieder, die als gut gelten, auf Deutsch übersetzt vorlesen, um zu demonstrieren, wie schlecht die sind.

Für die neue Arte-Reihe haben Sie in sechs Ländern zum Teil recht seltsamen Liebesritualen nachgespürt. Was war Ihr erstaunlichstes Erlebnis?

Krass fand ich die traditionelle Penis-Parade in Japan. Da tragen Priester überlebensgroße Phallen durch die Straße, um die Fruchtbarkeit zu feiern. Alle jubeln ihnen zu, quetschen sich auf den Straßen, singen und tanzen.

Und das in einem Land, dessen Bewohner offenbar ein sonderbares Verhältnis zur Sexualität haben.

Genau. Die sterben aus, wenn sie so weitermachen mit ihrer Fortpflanzung. Sorry, das klingt jetzt so, als würde ich über Pandabären reden. Aber Japaner haben eine sehr körperfeindliche Haltung, wenn es um Sexualität geht, etwa was Schamhaare angeht. Vor allem die Männer werden immer unfleischiger sexuell betrachtet, offenbar aus Überforderung. Es gibt eine Tendenz zu sehr viel Arbeit und zur Freizeit-Gestaltung mit dem Chef, um dann das Fleischliche im sicheren Digitalbereich auszuleben, wo man sich nicht um fremde Körperflüssigkeiten scheren muss.

Das romantische westliche Konzept von Liebe wird auf Ihren Reisen total erschüttert. Hatten Sie das vorher erwartet?

Nein. Das war eine große Denksportaufgabe für mich. Wenn ich in Kenia Frauen gefragt habe, was für sie Liebe ist, kam überhaupt keine Antwort. Das Konzept existiert gar nicht. Ich habe eine Friseurin, die ziemlich arm und alleinerziehend ist, interviewt. Für die spielt ein Mann im Leben keine Rolle. Es geht ums Geld verdienen, Kinder versorgen und dann lange nichts. Ich habe mich richtig bescheuert gefühlt. Liebe kam mir plötzlich vor wie ein Luxus, den sich nur Leute leisten können, die sonst keine Probleme haben.

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Charlotte bei einer Hochzeits-Zeremonie in Kenia für die Arte-Filmreihe „Love Rituals”

Ein Kenianer, der kein Geld hat, bekommt auch keine Frau.

So habe ich das erlebt, ja. Ich fand es schlimm zu sehen, dass sich kenianische Studentinnen alten reichen Männern an den Hals werfen, um Handtaschen, Schuhe oder Bargeld zu bekommen. Die waren nicht mit Gleichaltrigen zusammen, weil die denen finanziell nichts bieten können. Erst dann bemerkt man, dass es eben nicht selbstverständlich ist, dass deutsche Studentinnen gleichaltrige Männer lieben können, anstatt ihre Körper zu verkaufen.

Sie gelten als Befürworterin der Prostitution.

Grundsätzlich habe ich nichts gegen Prostitution, stimmt. Aber selbstverständlich bin ich nicht für Menschenhandel, verschleppte Frauen, die man unter Drogen setzt und denen man den Ausweis wegnimmt. Bei den Frauen, die das selbstbewusst und frei machen, sage ich: Das ist ehrenwerte Arbeit. Man darf diesen Frauen nicht allen unterstellen, dass die als Kind vergewaltigt wurden oder geistesgestört sind.

Sie waren für die Serie auch in Indien unterwegs, wo schon kleine Mädchen verheiratet werden. Dort gehört die Frau nach der Hochzeit dem Mann und seiner Familie.

Und wir sagen sofort: Sorry, aber das ist doch keine Liebe. Umgekehrt sagen die das über uns aber auch. In vielen Ländern ist das Thema Hochzeit sehr wichtig. Das Konzept, viele Kinder und eine große Familie zu haben, um Gott möglichst nahe zu sein. Da wird die Familie wie ein Unternehmen geführt, mit klar verteilten Rollen. Darum werden die Ehepartner dort auch oft von Eltern oder Vermittlern ausgesucht. Wenn sich in so einer Ehe Liebe entwickelt: schön. Bedingung ist es nicht. Wenn man sich unsere Scheidungsraten anschaut, lässt sich durchaus hinterfragen, ob wir mit unserem romantischen Konzept nicht auch ziemlich daneben liegen. Damit will ich jetzt aber auf keinen Fall Zwangsheiraten verherrlichen oder rechtfertigen.

Kann es wahre Liebe nur in Ländern geben, in denen Männer und Frauen gleichberechtigt sind?

Schwere Frage. Selbst in Deutschland sind wir das ja nicht. Wer fährt denn von der Arbeit und holt das kranke Kind aus dem Kindergarten ab? Was nicht heißt, dass nur Männer hart an sich arbeiten müssen. Eine deutsche Ärztin würde nie mit einem Pfleger zusammen sein. Ich halte es für ein Problem, wenn Frauen sich nur nach oben orientieren und ausschließlich Männer respektieren, die mehr haben als sie. Da ist die Gefahr groß, dass der Mann am Ende sagt: Ich bleibe doch nicht zuhause für die Kinder.

In der Serie gehen Sie auch der Frage nach, wie man Liebe auf Dauer lebendig halten kann.

Man muss akzeptieren, dass Liebe manchmal weggeht und es langweilig wird. Aber dann muss man zusammenbleiben, um sich fragen zu können: Fühle ich noch etwas? Meistens liegt es ja an Stress oder vielen Problemen, dass die Liebe weggeht.

Geht erst der Sex, dann die Liebe?

Wenn man den Partner buchstäblich nicht ranlassen will, stimmt etwas anderes nicht. Oft ist es, weil man sich erniedrigt fühlt oder den Partner nicht mehr versteht. Und dann trennt man sich oft viel zu schnell. Denn wenn man die Probleme bearbeiten würde, käme der Sex wieder.

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Charlotte Roche mit einer Voodoo-Priesterin samt Schlange in New Orleans für die Arte-Serie „Love Rituals”

Ein von Ihnen interviewtes Paar in Israel hatte seine eigene Methode, um die Liebe am Leben zu erhalten. Dort durfte der Mann seine Frau zwei Wochen im Monat lang nicht berühren. Hat Sie das überzeugt?

Freude durch Mangel: So nennen wir das bei uns zuhause. Das ist so, wie wenn die Klospülung längere Zeit nicht funktioniert. Wenn sie dann wieder funktioniert, freut man sich richtig doll. Ich würde das total unterschreiben.

Eine Vodoo-Priesterin aus New Orleans empfiehlt Ihnen diverse Kräuter als Liebesmittel. Hat das was getaugt?

Die Figuren und Mittelchen, die mir die Priesterin geschenkt hat, habe ich jetzt in einer Ecke meines Kleiderschranks aufgebaut. Nicht weil ich daran glaube, sondern weil ich mich nicht traue, sie wegzuschmeißen. Aus Angst und Respekt. Nachher stimmt das doch alles und dann passiert was Schlimmes.

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Wie sie als alte Frau aussieht? Mit einer App hat Charlotte Roche es sich verraten lassen.

Voodoo lehrt, dass man sich selbst lieben muss, um die Liebe anzuziehen. Wie haben Sie gelernt, sich selbst zu lieben?

Das ist bei mir erst so, seitdem ich mit meinem Mann zusammen bin. Davor habe ich mich nicht geliebt, und deshalb waren unsere ersten Jahre als Paar oft auch ein Horror. Dass ich mich heute selbst lieben kann, hat mehrere Gründe: die extreme Bestätigung durch meinen Mann, die in totales Vertrauen gemündet ist. Mutter sein war auch gut dafür. Weil man sich ändern will für das Kind, damit es sich später auch selbst lieben kann. Und Therapie, alleine und als Paar: Das hat mir sehr geholfen.

Selbstliebe heißt für Sie auch, dass Sie Ihre grauen Haare nicht färben und Schönheits-Maßnahmen wie Botox für Sie nicht in Fragen kommen. Denken Sie nicht manchmal doch: Mit 50 Plus könnte es für mich hart werden als Frau, die in der Öffentlichkeit steht und ständig beurteilt wird?

Nein. Und das hat auch was mit Selbstliebe zu tun. Da fühle ich mich wirklich wie ein Mann. Wenn alle sagen: „George Clooney wird immer schöner mit dem Alter“, hebe ich den Finger und sage: „Ist bei mir genauso.“

Auch als feministisches Statement?

Voll. Ich bin ja ein Vorbild für andere Frauen. Da habe ich die Pflicht, natürlich zu altern. Das fällt mir aber auch nicht schwer. Ich habe nie bezüglich meines Alters gelogen. Ich liebe Geburtstag feiern und raste jedes Jahr total aus. Ich würde mich richtig freuen, wenn ich es schaffe, über 100 Jahre alt zu werden - und auch so auszusehen. Ernsthaft: Ich denke jeden Tag über den Tod nach. Was für Krankheiten ich kriegen könnte im Alter zum Beispiel. Und dann rede ich mit der Familie drüber. Meine Eltern hingegen haben noch nicht mal ein Testament, weil die sich nicht alt fühlen und denken, sie müssten nichts regeln. Nach ihrem Tod wird die Familie dann zwanzig Jahre streiten über das Erbe.

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Charlotte Roche hat 20 Jahre im Agnesviertel gelebt.

Sie sind als TV-Moderatorin, Autorin berühmt geworden und heute sehr aktiv auf Instagram: Ist das nicht alles ein Schrei nach Liebe?

Total. Als Show-Pony, das Applaus hinterherläuft, kompensiert man damit etwas, was früher kolossal schiefgelaufen ist – mit den Eltern zum Beispiel. Das macht natürlich kreativ, hat aber auch etwas Trauriges.

Reden wir über Landliebe. Sie sind nach 20 Jahren Agnesviertel vor drei Jahren an den Rand der Stadt gezogen.

Ja, aufs krasse Land. Ein Ein-Straßen-Dorf mit nur einem Kiosk. Und sonst nichts.

Was war so schlimm an Köln?

Es war nicht schlimm. Aber wir haben ja Kinder und einen Hund. Und wenn ich mit dem Hund spazieren gegangen bin, musste ich über die Innere Kanalstraße in den Park. Mehrmals am Tag dachte ich, dass ich sterben muss wegen der ganzen Abgase. Wenn ich im Winter mit dem Hund joggen war, sah ich die Abgase noch deutlicher. Also bin ich mit Atemmaske gejoggt, wurde dafür aber mit Blicken gemobbt. Die Leute dachten vermutlich, ich habe eine schlimme Krankheit. Dabei wollte ich nur nicht deren Abgase einatmen. Dann ist in Köln einfach wenig Platz. Alle streiten sich: auf dem Radweg, auf dem Bürgersteig. Hundebesitzer, Griller, die den Müll im Park liegenlassen, Radfahrer, die auf dem Bürgersteig fahren müssen, weil sie Kinder haben. Und dann sitze ich im Auto, will abbiegen, mache einen Schulterblick und trotzdem schreit der Radfahrer: „Du Fotze“. Einfach nur, weil er gelernt hat, Todesangst vor Autofahrern zu haben. Das war mir einfach zu viel Streit, zu viel Krieg.

Hatte sich Köln geändert – oder Sie?

Wahrscheinlich beides. Aber dass der Stress auf der Straße mehr wird, ist statistisch ja belegt. Und die Autos werden komischerweise immer mehr, die Parkplätze immer weniger. Wenn man die Leute im Agnesviertel nach der Arbeit eine Stunde rumfahren sieht, um einen Parkplatz zu finden: Schlimm! Dass da nicht jeden Tag jemand allein im Agnesviertel Amok läuft, ist für mich ein Wunder.

Was gibt es an Köln zu loben?

Karneval finde ich megamäßig gut. Mein Mann und ich feiern den 11.11. und jeden Tag ab Weiberfastnacht durch. Ich bin auch ein richtiger Karnevalsmissionar und versuche immer, Berliner oder Hamburger zum Mitfeiern zu zwingen. Das muss doch jedem gefallen mit dem Verkleiden und Singen. Kindergeburtstag für alle.

Brunnen am Ebertplatz

Der Brunnen am Kölner Ebertplatz

Die Liebe der Kölner zu ihrer Stadt ist berüchtigt. Super oder peinlich?

Zu denken, dass Köln das Zentrum Europas sei, finde ich schon komisch. Das können die Berliner durchaus mit mehr Recht behaupten als die Kölner, allein zahlenmäßig. Bisschen unangenehm ist das also, ja. Aber auch nicht sehr schlimm.

Seitdem Sie weggezogen sind, hat sich der Ebertplatz sehr verändert. Zum Guten?

Ich weiß nicht. Es riecht definitiv immer noch sehr stark nach Urin, wenn man unten langgeht. Ich frage mich ja, ob das jemals wieder weggeht oder ob sich der Geruch in den Stein reingefressen hat. Als ich wegzog, hat die Polizei den Dealern gerade die Blumenkästen weggenommen. Ich war auf Seiten der Dealer, weil ich dachte: Wo sollen die denn jetzt die Drogen verstecken? Mir hat auch was gefehlt, als man plötzlich von allen Seiten auf den Ebertplatz gucken konnte. Mich erinnert das an Schamhaar-Rasuren. Sich alles wegzumachen, ist ja jetzt total modern. Sieht dadurch irgendetwas besser aus? Nein.

Noch nicht einmal der laufende Brunnen?

Ich habe leider ein Problem mit der Kombination von Urin-Geruch und fließendem Wasser. Das ist fatal.

Charlotte Roche über ihren Podcast „Paardiologie”

Um Liebe geht es auch in Ihrem aktuellen Podcast „Paardiologie“, wo Sie mit Ihrem Mann sehr offen über die Probleme in Ihrer Beziehung reden. Können Sie nachvollziehen, wenn Leute vorwurfsvoll fragen: Warum bleibt Privates bei Ihnen nicht privat?

Privat ist immer politisch, sage ich dann. Die schlimmen Gefühle, den Streit und die Probleme, die ich und mein Mann haben, betreffen doch alle irgendwie. Wir sind jedes Paar. Ich bin auch schon immer jemand gewesen, der allen erzählt, dass ich in Therapie bin. Manchmal hilft das Leuten, nach dem Motto: Wenn die Roche über ihre Therapie spricht, kann ich das auch.

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Auf den Orkney-Inseln, die Charlotte Roche in der Arte-Serie besucht, gehört das Federn einer zukünftigen Braut zur Tradition.

Wie sind die Reaktionen auf den Podcast?

Ich bekomme so viele Reaktionen wie noch nie in meinem Leben auf irgendetwas. Die Leute sind sehr emotional. Da erhalte ich mehrere Seiten lang geschriebene Romane über Beziehungsprobleme. Oder Paare, hetero- wie homosexuelle, erzählen mir: Wir hören euren Podcast immer zu zweit, machen zwischendurch Pause, streiten uns über etwas, das uns betrifft und drücken dann wieder auf Play.

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Charlotte Roche beim Beten mit indischen Frauen in der Arte-Serie „Love Rituals”

Eine deutschlandweite Gruppentherapie?

Ja. Wir ersetzen natürlich keine Paartherapie, aber ich hoffe, dass wir Werbung dafür machen. So viele Beziehungen gehen kaputt, weil die Paare sich keine Hilfe holen. Alle wursteln alleine rum. Dabei helfen manchmal nur wenige Stunden, um die Sache klarzukriegen. Manchmal schreiben mir Singles nach einer Podcast-Folge, dass sie jetzt wissen, warum ihre letzte Beziehung kaputtgegangen ist und dass sie viel von uns lernen für ihre nächste Beziehung. Und es gibt auch schon ein „Paardialogie“-Kind: Da ist die Fruchtblase der Frau geplatzt, weil sie beim Zuhören so lachen musste.

In einer Folge geht es um eine längere Affäre, die Sie während der Ehe hatten. Sie behaupten: Affären geschehen nicht nur, weil es in der Partnerschaft nicht gut läuft. Sondern?

Das kann auch eine Art Hobby sein. Oder eine Sucht. Meine Theorie: Es gibt Fremdgeher und Nicht-Fremdgeher. Ich gehöre eher zu den Fremdgehern. Und mir ist es zu einfach, wenn man dann sagt: Dann hast du den richtigen Mann noch nicht getroffen. Doch, habe ich. Aber mein Fremdgehen hat nichts mit dem Partner zu tun. Manchmal hat man halt das Bedürfnis, kurzzeitig von einer frischen Person angehimmelt zu werden, neu gesehen zu werden, sich neu zu erfinden. Das ist ja wirklich das Einzige, was ein langjähriger Partner einem nicht bieten kann. Wenn man die Sache ohne Moral betrachtet, ist das ganz einfach. Viele Leute vertun sich, wenn sie denken, Schluss machen zu müssen, weil sie betrogen wurden. Weil sie meinen, ihre Ehre retten zu müssen, obwohl die Affäre nichts mit ihnen zu tun hat. Ich kenne im Freundeskreis ein paar Fremdgeher und schwöre: Die werden niemals damit aufhören. Trotzdem sind sie tolle Mütter oder Väter und glücklich in ihrer Beziehung.

Wäre es nicht besser, als Paar offen darüber reden zu können?

Klar. Wenn das geht. Meine Therapeutin hat gesagt, dass man für eine glückliche Beziehung immer zwei Fragen stellen muss: Welche Regeln gibt es? Und wer hat die Regeln gemacht? Oft ist es so, dass die Person, die eifersüchtiger ist oder selbst nicht das Bedürfnis hat, fremdzugehen, die Regeln setzt. Das ist auch eine Form von emotionaler Erpressung: Tu mir das nicht an, ich würde dir das nie antun. Wer fremdgeht, weiß aber meistens: Das ist ein Heiopei, für den würde ich meinen Mann niemals verlassen.

Der Betrogene kann sich aber nicht sicher sein.

Und bezieht es dann direkt auf sich und zieht sich selber runter. Obwohl der Betrügende denkt: Häh? Du stehst für mich doch ganz weit oben! Ich fände es cool, wenn man dann die Kirche im Dorf lässt und es lockerer sieht.

Alkohol und Drogen können auch ein Liebesersatz sein. Sie haben früher sehr viel getrunken.

Total. Irgendwann haben mein Mann und ich gemerkt, dass wir unter Alkoholeinfluss sehr viel streiten und Missverständnisse haben, die nüchtern total sinnlos sind. Dann habe ich mit einem Buch von Allen Carr aufgehört: „Leben ohne Alkohol“ heißt. Jetzt trinke ich seit über drei Jahren nicht und finde es ganz leicht. Das hilft mir sicher auch dabei, über 100 Jahre zu werden.

Seit Ihrem Bestseller-Roman „Feuchtgebiete“ haben Sie den Ruf, sich vor gar nichts zu schämen. Dabei würden Sie niemals in eine Sauna gehen. Wie geht das zusammen?

Es ist ein riesiges Missverständnis, dass alle denken: Wenn die Roche solche Bücher schreibt und so in Talkshows redet, ist der nichts peinlich. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Ich wurde extrem verklemmt erzogen und schäme mich richtig dolle wegen normaler körperlicher Sachen. Ich muss also die ganze Zeit lauthals gegen meine Erziehung ankämpfen. Ich brauche ganz viele Worte, um mich von der Scham zu befreien. Bücher schreiben hilft da übrigens sehr.

Zum Schluss die Eine-Millionen-Dollar-Frage: Was genau ist Liebe denn jetzt eigentlich?

Fürsorge! Als ich mit meinem Mann zusammengekommen bin, war ich sehr bedürftig. Jetzt bin ich stärker und brauche keine Hilfe mehr. Aber wir zwei sind wie Bauern, die sich um eine einzige Pflanze kümmern, die nicht sterben darf. Wir rackern uns tierisch ab – und lernen auf dem Weg ganz viel darüber, wie sie nicht verrottet. Weil auch das ist Liebe: ganz viel Arbeit!

Das Gespräch führte Sarah Brasack