Doku über Silvesternacht 2015/2016„Da waren unendlich viele Männer um uns herum“
Köln – Lisa S. ist mit ihren beiden älteren Cousinen aus der Oberpfalz nach Köln gekommen. Die drei jungen Frauen wollen auf der Domplatte Silvester feiern. Was die drei auf dem Weg dorthin gegen 23 Uhr am Ausgang des Kölner Hauptbahnhofs erleben, steckt ihnen bis heute in den Knochen.
„Da waren unendlich viele Männer um uns herum. Uns wurde von allen Seiten direkt in den Schritt gegriffen. Mein Kleid wurde hochgezogen, meine Cousine haben Sie am Arm festgehalten und versucht sie mitzuziehen. Wir versuchten uns zu wehren, doch wir hatten keine Chance“, berichtet Lisa S.. Hilfe ist nicht in Sicht. Die Polizei bekommt nicht mit, was an diesem Abend auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln vor sich geht.
Massenhafte Übergriffe
Es ist die Silvesternacht 2015/2016. Im Schatten der Kölner Kathedrale kommt es zu massenhaften sexuellen Übergriffen auf junge Frauen. 560 von ihnen erstatten Anzeige. Bei den Tätern handelt es sich ganz überwiegend um Flüchtlinge und Migranten. Wie konnte es zu dem Mob kommen? Wo war die Polizei? Wer trägt die Verantwortung für das Staatsversagen? Auch fast sechs Jahre später ist die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen. Jetzt wirft eine dreiteilige Dokumentation, die von dem Kölner Produktionsstudio Broadview TV erstellt wurde (Donnerstag bei RTL plus abrufbar) erneut ein Schlaglicht auf die Vorgänge.
Ahmad E. kam mit Freunden nach Köln
Zu den Zeugen, die von den Autoren befragt wurden, gehört auch der Syrer Ahmad E.. Der damals 18-Jährige traf gegen 23 Uhr am Kölner Hauptbahnhof ein. Für ihn sollte es die erste Silvesterfeier in Deutschland werden. Nach einer gefährlichen, wochenlangen Flucht aus Damaskus über den Libanon und sechs weitere Länder lebte Ahmad E. erst seit drei Monaten in Overath. Mit seinem Bruder, seinem Cousin und einem Freund wollte er den Jahreswechsel 2015/2016 am Dom erleben.
Aus dem Fernsehen kannte er schon die Silvesterfeiern in Berlin: das Feuerwerk dort hatte ihn fasziniert, dazu die Ausgelassenheit der Menschen, diese Unbeschwertheit, die über allem lag. „Das wollte ich miterleben, und Köln war einfach von uns aus gesehen die nächste Großstadt“, erzählt Ahmad E. dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ bei einem Treffen am Hauptbahnhof an einem windigen Nachmittag dieser Woche.
Menschenmassen, Lärm, Angst
Doch was er an jenem Silvesterabend tatsächlich unterhalb der Domtreppe erlebte, waren Menschenmassen außer Kontrolle, Lärm und Angst. „Aus den Sprachen, die ich um mich herum hörte, schloss ich, dass die meisten Menschen aus Nordafrika stammten, aus Algerien, Marokko oder Tunesien“, erinnert sich Ahmad E.. Manche schossen Raketen in die Menge und jubelten dabei, viele schienen betrunken zu sein.
Was den Syrer am meisten entsetze, war eine Beobachtung auf dem Bahnhofsvorplatz: „Mehrere Männer hatten zwei junge Frauen eingekreist. Die Männer riefen sich etwas zu, sie lachten, die Frauen zwischen ihnen sah ich irgendwann nicht mehr, ich hörte ihre Schreie, und plötzlich wurde ihre Unterwäsche durch die Luft geworfen.“ Spätestens in diesem Moment sei ihm klar geworden: „Hier stimmt etwas nicht, irgendetwas passiert hier gerade.“
Die Lage total unterschätzt
Es stimmte vieles nicht. Wie es zum Skandal kommen konnte, recherchierten damals auch die Journalisten von „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Express“. Sie werteten Zehntausende Seiten größtenteils vertraulicher Dokumente aus, sichteten hunderte Stunden Videomaterial. Auch die Zeugen, die im Untersuchungsausschuss des Landtags vernommen wurden, brachten mit ihren Aussagen Licht ins Dunkel. So entstand ein Gesamtbild, das ein Schlaglicht auf das Ausmaß des Versagens wirft.
Fehler eins: Die Polizei hatte die Lage unterschätzt. Weil Überstunden abgebaut werden sollten, hatten viele Bereitschaftspolizisten dienstfrei. Die wenigen Kräfte, die eingeplant waren, sollten ihren Dienst erst um 22 Uhr aufnehmen, weil der Einsatz nur eine Schicht betreffen sollte. Reservekräfte waren in Wuppertal, Aachen Gelsenkirchen stationiert und ad hoc nicht greifbar. Um 22.36 Uhr meldet der Polizeiwagen „Arnold 1145“ an die Leitstelle: „Da sind über 1000 Menschen. Zu zweit können wir da wenig machen.“ Die Täter hatten freie Bahn.
Fehler zwei. Die Räumung des Bahnhofsplatzes spitzt die Lage zu. Als um 23.25 endlich Landespolizisten als Verstärkung eintreffen, wird der Bahnhofsvorplatz geräumt. Das Problem. Durch die Kette werden die Menschen in den Bahnhof abgedrängt. Dort wird die Lage völlig unübersichtlich. Es kommt nicht nur zu sexuellen Übergriffen, vielen Frauen werden von den Peinigern im Gedrängel auch Bargeld und Handys geklaut. „Wir wurden so arg zusammengequetscht, dass ich nicht mehr konnte“, berichtet eine Studentin in einer Online-Anzeige. „Selbst als ich dann mit dem Ellenbogen geschubst und geschrien habe, haben sie immer noch unters Kleid greifen wollen.“
Trotz Warnung waren die Brücken offen
Fehler drei: Die Stadt hat die Lage auf der Hohenzollernbrücke nicht im Griff. Obwohl es im Vorjahr schon viel zu voll auf der Rheinquerung war, entschließt sich die Stadt erneut trotz Warnungen, die Brücke offen zu halten. Der Zugang wird allerdings nicht gesteuert, eine Bestreifung für nicht nötig befunden. Die Polizei lehnt die Unterstützung der Stadt mit Fußstreifen schon im Vorfeld mit dem lapidaren Hinweis ab, ihre Einsatzkleidung sei nicht feuerfest. Nach der Räumung des Bahnhofsplatzes wird es auf der Brücke viel zu eng, es bricht Panik aus. Die Bundespolizei muss den Menschen schließlich dabei helfen, auf die Gleise zu fliehen. „Rettet meinen Sohn“, fleht ein Vater einen Beamten an, bevor er sein Kind über das Geländer hebt. Der Bahnverkehr muss eingestellt werden. 56 voll besetzte Züge stecken im Bahnhof fest.
Fehler vier: Das Kommunikationskonzept funktioniert nicht. Das Ordnungsamt der Stadt Köln und die Polizei funken auf unterschiedlichen Frequenzen. Um das Problem abzumildern, hat die Stadt am frühen Abend im Funkzimmer der Polizei ein eigenes Funkgerät hinterlegt. Das Problem: Zu dem Zeitpunkt sind die Polizeifunker noch nicht im Dienst. Später wissen die Beamten mit dem unbekannten Gerät nichts anzufangen. Die Folge: Ein Austausch über die Lage findet nicht statt. Warnungen werden nicht weitergegeben. Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. Das spielt den Tätern in die Hände.
Die Berichte über die skandalösen Ereignisse schockieren die Öffentlichkeit. Schnell wird klar, dass es zu einem Stimmungsumschwung in der Zuwanderungspolitik kommen könnte. Auch Ahmad E. schwante Übles: „Ich wusste: Was da in Köln passiert ist, wird man nicht mehr vergessen. Das gibt jetzt ein großes Problem für uns.“ Für uns? „Ja, für alle Flüchtlinge.“ In gewisser Weise könne er sogar verstehen, dass manche in Deutschland damals geglaubt hätten, alle Flüchtlinge seien so. „Sie haben nicht unterschieden.“ Das sei inzwischen, sechs Jahre später, anders, sagt Ahmad E.
Viele hätten verstanden, dass Menschen wie er, sein Cousin, sein Bruder und sein Freund „nicht zum Spaß hier“ seien, sondern weil sie vor Krieg, Folter und Tod in ihrer Heimat geflohen seien.
Desaster für die Landesregierung
Der heute 24-Jährige arbeitet seit ein paar Jahren als Koch in einem Schlosshotel, dort hat er auch seine Ausbildung absolviert. Ahmad E. hat Integrationskurse besucht und schnell die deutsche Sprache gelernt. Er sei dankbar für die Chancen, die er in Deutschland bekommen habe und wolle nun etwas zurückgeben, sagt er. Ahmad E. war mit seinen Freunden schnell wieder in den Zug gestiegen um Köln zu verlassen, als er bemerkte, was auf dem Bahnhofsplatz vor sich ging.
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Von den Tätern wurden nur wenige bestraft, meist nicht wegen der sexuellen Übergriffe, sondern weil Diebesgut bei ihnen gefunden wurden. Viele Frauen konnten ihre Peiniger auf den ihnen vorgelegten Fotos nicht eindeutig identifizieren.
Für die rot-grüne Landesregierung geriet die Silvesternacht zu einem politischen Desaster. Die damalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) äußerte sich erst Tage später zu den Vorgängen, obwohl ihr Umfeld sofort informiert war. Auch der zu der Zeit amtierende NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) machte keine gute Figur und nährte den Verdacht, dass Pannen vertuscht und die Aufklärung blockiert werden sollten. Das misslungene Krisenmanagement wurde zu einem Sargnagel für die Koalition von SPD und Grünen, die bei der Landtagswahl 2017 ihre Mehrheit verlor.Lisa S. hatte wegen des Übergriffs am Bahnhofsausgang übrigens eine Strafanzeige gestellt. Auf eine Reaktion der Justiz wartet Sie bis heute.
Die drei Folgen der Doku "Die Kölner Silvesternacht" stehen ab 9. Dezember beim Streamingdienst RTL+ zum Abruf bereit.