David S. hat sein halbes Leben exzessiv gewettet. Jetzt versucht der hoch Verschuldete, einen Teil der Verluste zurückzubekommen. Kann er diesmal gewinnen?
Sucht nach Sportwetten„Habe nicht nur mich in den Abgrund gerissen“ – Davids letzte Wette
Am Ende hat David S. die Zeit ganz vergessen, hat gewettet und gebangt, die Uhr war ihm längst egal.
Es ist 4 Uhr in der Früh, als er aufgeregt hinaufrennt zu seinen Großeltern, die im selben Haus wohnen, und sie aus den Betten klingelt. „Ich habe gewonnen“, ruft er ihnen zu. Auf die Pittsburgh Penguins hat er gesetzt, nordamerikanische Eishockeyliga, „Superquote“. Seine Großeltern schauen ihn verdutzt und müde an. Aber irgendwie freuen sie sich mit für den Jungen, der da so beseelt vor ihnen steht. „Ich habe mich so gefreut“, sagt David S. heute. Aus 5 Euro Einsatz hatte er 136 gemacht. „Aber im Vergleich zu jetzt waren das natürlich Peanuts.“ Es war sein erster Gewinn. Aber im Nachhinein war es wohl eher der Beginn einer langen, großen Niederlage.
33 Jahre ist David alt. Er kann nur schätzen, wie viel er in den letzten 15 Jahren verspielt hat. „Über 100.000 ist realistisch“, sagt er. In seinem Leben gab es bald nur noch die Wetten auf den Sport, er hat keine Berufsausbildung, hat Schulden bei der Bank, seiner Mutter, den Großeltern und Schuldgefühle. „Ich habe ja“, sagt er, „nicht nur mich in den Abgrund gerissen.“
Ein gewaltiger Markt
Aber Hoffnung, die hat er jetzt auch. Zumindest einen Teil seiner Verluste könnte er zurückbekommen. Denn vor dem Bundesgerichtshof liegt ein Fall, der dem von David ähnelt – und der Folgen haben könnte. Für Spieler (es sind tatsächlich fast nur Männer), die in den letzten Jahren oft Zehntausende Euro verwettet und verloren haben – und für eine Branche, die auch mit Menschen wie David sehr viel Geld verdient hat.
Das Geschäft mit den Sportwetten ist in der Tat längst ein gewaltiger Markt. 7,72 Milliarden Euro haben die Deutschen im vergangenen Jahr laut dem Verband der Sportwettenanbieter eingesetzt. Branchenführer Tipico ist Partner des FC Bayern München und der Deutschen Fußball Liga, die Spots laufen in den Werbepausen der „Sportschau“. Sie zeigen junge Männer, schnelle Autos, Großstadtszenen, Gangsta-Rap-Ästhetik, dazu eine Stimme aus dem Off: „Du kennst dieses Gefühl, wenn du alles ausblendest. Wenn es um nichts anderes geht.“ Die Spots zielen genau auf jene Gruppe, die am anfälligsten für das ist, was die Forschung „problematisches Spielverhalten“ nennt: junge Männer, migrantisch, sportaffin. Und zugleich geben sich die Anbieter mit ihrem Marketing alle Mühe, jeden Anflug des Unseriösen auf das Weiteste hinter sich zu lassen.
Wetten rund um die Uhr
Dabei bewegten sich die Sportwettenanbieter in Deutschland lange Zeit in einer rechtlichen Grauzone. Bis 2020 verfügten sie hier über keine Konzession. Die deutsche Politik wollte Online-Sportwettenanbieter zwar zulassen, verhedderte sich aber bei dem Versuch, Regeln für die Vergabe der Konzessionen zu erlassen, die das nächste Gericht nicht gleich wieder kippt.
Tipico zum Beispiel, mit Sitz in Malta, versuchte zwar, eine dieser Konzessionen zu bekommen – bekam sie aber, wie alle anderen auch, erst 2020. Die entscheidende rechtliche Frage ist nun: Waren alle Sportwetten bis dahin hierzulande nichtig? Und müssen die Anbieter daher die Einsätze zurückzahlen?
„Ich wäre jedenfalls niemals auf die Idee gekommen“, sagt David, „dass an diesen Wetten irgendwas nicht erlaubt sein könnte.“ David dachte auch nie, dass Sportwetten etwas mit Glück zu tun haben könnten. Für ihn war es eine Frage des Wissens. Er hatte ja selbst lange Fußball gespielt. Bis zur B-Jugend in einem Verein im Westen Deutschlands, der sogar mal deutscher Meister war, dazu Bezirksauswahl. „Ich hätte es in die Oberliga geschafft“, sagt er heute. Aber dann wechselte er den Verein, folgte falschen Versprechen, es ging nicht weiter.
Alles begann mit einfachen Wetten mit dem Opa
Es begann mit Oddset, einfachen Wetten mit festen Quoten, „3, 4, 5 Euro, zusammen mit meinem Opa“, den er Oppa nennt. Oppa, früher Schweißermeister, 17, 18 ist David da. Und dann, später, Onlinewetten, mit niedrigen Einsätzen noch. Anfangs schafft er es, sich sein Geld einzuteilen. „Von den 136 Euro bin ich mal Currywust Pommes essen gegangen, mit Cola“, sagt er. „Das war schon das höchste der Gefühle.“ Aber so bleibt es nicht.
Bald wettet David auf alles. Drittklassige Fußballer in der Türkei, Basketballer in Litauen, Volleyballer in China. Einen seiner höchsten Gewinne, 800 Euro, macht er mit einer Wette auf ein Spiel in der 1. tschechischen Tischtennisliga.
Wer will, kann 24 Stunden am Tag wetten. „Ich bin morgens aufgewacht, und der erste Gedanke war: Was wette ich jetzt?“
2,4 Prozent der erwachsenen Deutschen glücksspielsüchtig
Die allermeisten Menschen in Deutschland spielen und wetten aus Spaß. Jeder dritte, so besagt es der gerade erschienene Glücksspiel-Survey 2023, hat binnen eines Jahres mindestens einmal um Geld gespielt. Als glücksspielsüchtig gelten 2,4 Prozent der erwachsenen Deutschen. Unter allen Spielformen zählt die Forschung die Livesportwetten zu den riskantesten: Knapp 32 Prozent spielen hier laut Survey krankhaft.
„Sportwetten sind tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt der Glücksspielforscher Tobias Hayer von der Universität Bremen, „aber die Folgeschäden sind es auch.“
Manchmal läuft es für David gut. Dann gewinnt er, kauft sich eine Diesel-Jeans, einen Grill, einen Kaffeeautomaten. Oder er lässt sich den Gewinn auszahlen und fährt zum Club. „Da hab ich das Bündel rausgeholt, dass es alle sehen konnten, und gedacht, ich wäre Al Pacino“, sagt er. „Eigentlich total affig.“ So sieht er es heute.
Schlechte Kontrollmechanismen
Aber meistens läuft es schlecht. Dann spielen die estnischen Basketballer doch nicht, wie er dachte. Und dann braucht er Geld. Er sammelt Flaschen, verkauft seine Lederjacke, bittet die Großeltern um Geld, seine Mutter. „Ich habe denen immer irgendwelche Geschichten erzählt.“
David S. spielt in seinen Hochzeiten bei mehreren Anbietern. Er sagt, er könne sich in all den Jahren nur an eine Mail erinnern, ein Standardschreiben, das ihn auf sein Spielverhalten hingewiesen habe. „Ich war oft drei-, viermal am Tag in einer Filiale“, sagt er. „Aber da kam gar nichts.“
Es gibt Momente, da ist David S. selbst klar, was er tut – und kann es doch nicht ändern. Dann hört er düstere Musik, stopft Pizza in sich hinein. „Und dann fragst du dich: Warum lebt man eigentlich noch?“
Die einzige Antwort, die er findet, ist: für die nächste Wette. „Die Welt um dich herum vergisst du einfach.“ Die Schule zum Beispiel: Er arbeitet sich voran, von der Hauptschule bis zum Gymnasium – und fehlt dann so oft, dass er abgeht. Er kommt zu spät zur Arbeit, lässt seine Freundin vor der Tür stehen, wenn das Spiel noch läuft. Seine Mutter nimmt einen Kredit für ihn auf – und verzichtet auf das Auto, das sie sich doch immer kaufen wollte. Auch er selbst hat Schulden. „50k“, sagt er. 50.000 Euro. Da kamen ihm die Nachrichten gerade recht.
Im Netz buhlen mittlerweile rund ein Dutzend Kanzleien um die Verlierer der Sportwetten. Sie alle versprechen, verlorenes Geld zurückzufordern – und beziehen sich dabei auf die Zeit vor 2020, als die Anbieter noch keine Konzession in Deutschland hatten. Tatsächlich haben sie damit zuletzt vor Gerichten in der Mehrzahl Erfolge erzielt. „Die Mehrheit der bisherigen Entscheidungen zu Sportwetten-Rückerstattungen ist eindeutig verbraucherfreundlich“, sagt Eik Aßmann, Anwalt in der Berliner Kanzlei Goldenstein Rechtsanwälte, die auch David vertritt.
Hoffnung auf Verbraucherfreundliches Urteil
Der 33-Jährige fordert von Tipico gut 21.000 Euro für die Zeit zwischen 2013 und 2018 zurück. Ein kleiner Teil dessen, was er tatsächlich verwettet hat, aber nur darüber hat er Nachweise. „Den meisten Klägern wird unter Berücksichtigung von Verzugszinsen mehr zugesprochen, als sie bei den Wetten verloren haben“, sagt dafür Anwalt Aßmann.
Für Menschen wie David klingt das wie eine Verheißung – und für die Wettanbieter wie eine mächtige Bedrohung, ausgerechnet im EM-Jahr.
Tipico jedoch glaubt sich offenbar im Recht. Wie viele Klagen gegen das Unternehmen anhängig sind, verrät Tipico nicht. „Tipico war stets legal tätig“, beteuert ein Sprecher. Seit der Gründung 2004 habe man immer über eine gültige EU-Lizenz verfügt – und es sei Deutschland gewesen, das den Anbietern lange Zeit rechtswidrig eine Erlaubnis vorenthalten habe, obwohl Tipico die Anforderungen erfüllte.
Es gibt auch Gerichte, die diese Argumentation teilen. In dem Fall, der jetzt vor dem Bundesgerichtshof liegt, haben sich die ersten Instanzen genau darauf berufen und die Ansprüche des Klägers, der rund 4000 Euro von Tipico zurückfordert, abgewiesen. Die Verhandlung, auf die Branche und Betroffene mit Spannung schauen, sollte eigentlich in der vergangenen Woche stattfinden – wurde aber doch noch einmal zurückgestellt, weil Kläger und Tipico erst einmal über einen Vergleich verhandeln.
Für den Anwalt fehlt das Geld
Doch selbst wenn sie gewinnen, ist für die Wetter nicht klar, ob sie Geld zurückbekommen. Auf Malta sind die Sportwettenanbieter längst einer der wichtigsten Wirtschaftszweige. Nun hat das Land ein Gesetz erlassen, die „Bill 55“, das die Firmen vor den Folgen deutscher Urteile schützt. Das widerspricht zwar EU-Recht, hat aber zunächst einmal vor allem eines zur Folge: dass die meisten Anbieter nicht zahlen.
Dazu sind die meisten Spieler, weil ihnen das Geld für den Anwalt fehlt, auf Prozessfinanzierer angewiesen. Diese tragen zwar das Risiko einer Niederlage – aber kassieren im Erfolgsfall auch bis zu 40 Prozent der Rückerstattungssumme.
Der bekannteste dieser Finanzierer ist die Firma Gamesright, deren Partner wiederum seit Februar der Fußball-Bundesligist FSV Mainz 05 ist. Wenn Kläger dann gegen Tipico vorgehen, Partner der DFL, können sie mit ideeller Unterstützung eines Clubs rechnen, der in der Bundesliga dieser DFL spielt.
David kann, wenn er denn recht bekommt, auf gut 12.000 jener 21.000 verlorenen Euro hoffen. Eine andere Wahl, als einen Finanzierer einzuschalten, habe er halt nicht gehabt.
Was er mit dem Geld machen würde? „Ich würde das 1000-prozentig nicht wieder einsetzen“, sagt David S. Bei Tipico hat er sich sperren lassen und eine Therapie gemacht. „Ich würde meiner Mutter den Mini Cooper kaufen, auf den sie für mich verzichtet hat.“ Nur dass es jetzt, nach der Provision für den Finanzierer, eben ein älteres Modell sein müsste.