FamiliengeschichtenSeine Großeltern wurden ermordet, ihr Vater war bei der SS
- Wie gelingt der Umgang mit der deutschen Vergangenheit? Nur im Gespräch miteinander, sagen Peter Pogany-Wnendt und Erda Siebert.
- Seine jüdischen Großeltern wurden im Holocaust ermordet, sie ist die Tochter eines SS-Offiziers. „Ich habe das anfangs nicht ertragen, wenn Frau Siebert liebevoll über die Erinnerungen an ihren Vater sprach“, erinnert sich Pogany-Wnendt.
- Der Versuch einer Versöhnung. Aus unserer Serie: 75 Jahre Weltkriegsende.
Köln – Am Ende des Gesprächs holt Peter Pogany-Wnendt eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Nebenzimmer. Ein Mann und eine Frau, eingerahmt von einem ovalen Passepartout und einem schmalen, dunkelbraunen Holzrahmen. Er mit Oberlippenbart und starrem Blick, der leicht am Fotografen vorbeigeht, sie mit Grübchen und angedeutetem Lächeln. „In diesem Bild liegt er begründet, mein Schmerz“, sagt Pogany-Wnendt und grinst, um den Pathos in diesen Worten herunterzuspielen.
Der 65-jährige Psychotherapeut sitzt in seinem von zwei vollen Bücherwänden eingerahmten Behandlungszimmer im Souterrain eines Kölner Altbaus. Seine gelockten, grau-schwarzen Haare stehen vom Kopf ab. Er trägt Hausschuhe, wie so viele in diesen Tagen, die sich auch schon vor den offiziellen Ausgangsbeschränkungen hauptsächlich in den eigenen vier Wänden ereignen, und erzählt mit ruhiger Stimme und bedachten Worten von „seinem Schmerz“.
Familie zog ins Land der Täter
Das Foto zeige seine Großeltern aus Budapest, einen jüdischen Urologen und seine Frau. Das Ehepaar wurde von den ungarischen Pfeilkreuzlern, der faschistischen Kollaborationsregierung im Zweiten Weltkrieg, umgebracht. Wie und wann, weiß Pogany-Wnendt bis heute nicht, irgendwann im Jahr 1945, vermutlich an der Donau erschossen und in den Fluss geworfen. Als sein damals 19-jähriger Vater nach dem Arbeitsdienst in einer Kupfermine in die ungarische Hauptstadt zurückkehrte, waren beide tot.
25 Jahre später zog dieser mit seiner eigenen Familie aus Chile, wohin sie während des ungarischen Aufstands 1953 zunächst geflohen waren, nach Deutschland. In das Land der Täter. In dem Menschen an Schreibtischen die Vernichtung der europäischen Juden geplant hatten und dabei ihre eigene Menschlichkeit gleich mitvernichtet hatten. Warum zog die Familie ausgerechnet hierher? „Das ist eine Frage, die ich mir bis heute nicht beantworten kann“, sagt Pogany-Wnendt. Die Eltern hätten lange ihre jüdische Herkunft versteckt. „In ihrer Vorstellung war jeder ältere Deutsche noch ein Nazi.“ Sie verdrängten im Alltag ihre unterschwelligen Ängste, verboten ihrem Sohn lange, in der Schule zu verraten, dass er Jude ist.
„Wir wollten unsere Geschichten teilen“
Mit den Jahren sei es besser geworden. Der Vater, Gynäkologe von Beruf, der die Deutschen anfangs hasste, aber ihre Kinder zur Welt brachte, wurde milder. Zog er doch nach Deutschland, um sich zu versöhnen? Bis heute treibt Pogany-Wnendt diese Frage um. Das Regal hinter ihm ist voller Bücher über die Nationalsozialisten, Hitlers „Mein Kampf“ in kommentierter Variante, Biografien der KZ-Überlebenden. Er wolle das immer noch alles verstehen, sagt er.
Ein Jahr nachdem Pogany-Wnendts Vater starb, gründet er 1995 mit anderen Kindern von Holocaust-Überlebenden und Nachfolgern deutscher NS-Täter den „Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust“. „Wir wollten unsere Geschichten teilen“, sagt er. „Und hatten keine Vorstellung, wie schwierig das werden würde.“ Immer wieder seien in den Gesprächen Spannungen entstanden, die niemand vorhersah. Lappalien führten zu heftigen Streits, Austritten aus der Gruppe, Unverständnis und Unbehagen. Pogany-Wnendt erklärt die Dynamik gerne am Beispiel eines Freundschaftsspiels zwischen Deutschland und Israel 1997.
Ein Fußballspiel als Projektionsfläche der Ängste
Eine DFB-Auswahl spielte in Tel Aviv, besuchte während der Reise die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. „Hat es so etwas wirklich gegeben?“, soll Nationalspieler Mario Basler seinen Trainer Berti Vogts bei einem Foto, auf dem ein KZ-Wärter einen Juden exekutiert, gefragt haben. Ja. Pogany-Wnendt sah das Spiel damals mit seinen Kollegen aus dem Arbeitskreis, die Stimmung war angespannt. „Die Deutschen hatten Angst, dass ihre Spieler den Gegner zu hart angehen“, erinnert er sich. „Und ich hatte diese Angst irgendwie auch. Oder dass die Israelis auf dem Platz zu brutal sind. Aus Rache.“ Ein Fußballspiel als Projektionsfläche der Vergangenheit.
In ihren langen Gesprächen über die jeweiligen Familiengeschichten kamen immer wieder unterschwellige Rache- oder Schuldgefühle auf, erinnert sich auch Erda Siebert. Die Psychoanalytikerin lebt in Düsseldorf, wurde 1944 in Dresden geboren, flüchtete als Baby mit ihrer Mutter und den beiden älteren Brüdern zu den Großeltern nach Stade in Norddeutschland. „Ich habe meine Kindheit mit dem Gefühl verbracht, dass wir eine Flüchtlingsfamilie sind“, sagt sie. Die ersten Jahre nach dem Krieg besuchte der Vater sie manchmal am Wochenende, ein Lichtblick für die Kinder im trüben Nachkriegsalltag.
Lernen, mit den Taten des Vaters zu leben
Erst Jahre später begriff sie: Der Vater musste sich als ehemaliger SS-Obersturmbannführer verstecken. Er war zeitweise ein Mitglied der brutalen Einsatzgruppe A gewesen, die der Wehrmacht im Baltikum und Russland nach der Besetzung folgte, um die jüdische Bevölkerung zu ermorden. Der Vater verstarb in den 1970er-Jahren, bevor er sich vor Gericht verantworten musste und – ohne dass Siebert mit ihm über seine Taten sprach. Alles, was sie heute weiß, entnahm sie Akten, sprechen konnte sie darüber lange mit niemandem. „Mir fehlte die Sprache für diese Art Gefühle.“
Für die Mischung aus Scham, Schuld und Unverständnis. Eine Sprache entwickelte sie erst mit den Kindern Holocaust-Überlebender. „Ich habe das anfangs nicht ertragen, wenn Frau Siebert liebevoll über die Erinnerungen an ihren Vater sprach“, erinnert sich Pogany-Wnendt. „Heute weiß ich: Ihre Bürde ist vielleicht nicht leichter als meine.“ Siebert sagt: „Vieles kann ich immer noch nicht fassen. Aber ich musste lernen, mit meinem Vater zu leben. Um mich zu lösen.“ Der Arbeitskreis der beiden Vorsitzenden wächst, hat heute über 100 Mitglieder, die teilweise aus der dritten und vierten Generation nach dem Krieg stammen.
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Heute melden sich Enkel bei ihnen, die Tagebücher ihrer Großeltern im Keller gefunden haben, die die Eltern nie lesen wollten, erzählt Pogany-Wnendt und ist sich sicher: „Verdrängte Schuldgefühle werden an die Kinder weitergegeben.“ Es gebe Kriegsenkel-Gruppen in ganz Deutschland, sagt auch Siebert, „so etwas aufzuarbeiten geht nicht alleine.“ Ein Ende der Erinnerungskultur sehen beide noch lange nicht. Damit eine Gesellschaft ein Ereignis, wie den Zweiten Weltkrieg verarbeite, brauche es mehrere Generationen. Die nicht schweigen.