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Kommentar

Falsche Profiteure
Warum nehmen die etablierten Parteien meine Ängste nicht wahr?

Ein Kommentar von
Lesezeit 5 Minuten
09.10.2024, Berlin: Alice Weidel (l), Partei- und Fraktionsvorsitzende der AfD, und Sahra Wagenknecht, Parteivorsitzende von BSW und Bundestagsabgeordnete, stehen an ihren Rednerpulten zu Beginn des TV-Duell bei dem Nachrichtensender Welt-TV. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

AfD-Chefin Alice Weidel (l.) und die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht am 9. Oktober bei „Welt-TV“.

Die Parteien der politischen Mitte versäumen es, auf die nachvollziehbaren Emotionen vieler Menschen einzugehen – zur Freude von AfD und BSW.

Eines der stärksten Worte der deutschen Sprache ist das Wort Angst. Es ist so erfolgreich, dass es im Englischen den Begriff Fear für die höchste Form der Furcht abgelöst hat. Angst ist lautmalerisch, ein Wort, das einem im Halse steckenbleibt. Angst. Ich habe kein Problem damit, es zu verwenden. Ich habe auch kein Problem, zuzugeben, wenn ich Angst habe. Und ich weiß, dass Angst ein Ausnahmezustand ist, der Menschen irrational handeln lässt.

Mir ist allerdings ein Rätsel, warum viele handelnde Personen in der deutschen Politik bis hinauf in die höchsten Ämter das nicht zu wissen scheinen. Wenn sie es wüssten, wären sie von den Resultaten der jüngsten Wahlen weniger überrascht. Oder sie würden versuchen, stärker mit ihren potenziellen Wählerinnen und Wählern in Kontakt zu treten, um problematische Entscheidungen zu erklären, Kriege und Krisen besser zu moderieren und bei allen Entscheidungen immer das psychologische Axiom zu beachten, dass im Zweifelsfall die menschliche Emotion den menschlichen Verstand schlägt. Auch an der Wahlurne. Und die stärkste Emotion, derer Menschen fähig sind, ist – die Angst.

Olaf Scholz erklärt schlechter als Angela Merkel

Hilfreich dabei wäre für alle bürgerlichen Parteien ein gut gefüllter rhetorischer Werkzeugkasten. Der ist allerdings seit vielen Jahren leer. Olaf Scholz hat es nach seiner Wahl zum Bundeskanzler sogar geschafft, die Wortarmut seiner Vorgängerin Angela Merkel noch zu überbieten. Mehr als mechanische Aufmunterungen bringt er nicht zustande, während das politische Establishment so viel mit seinen eigenen Streitigkeiten zu tun hat, dass es sich um die Bevölkerung und ihre Ängste nicht kümmern zu können scheint.

Einen größeren Gefallen könnten die etablierten Parteien der AfD und dem BSW nicht tun. An sie kann sich jeder mit seiner Angst wenden und findet einfache Antworten. Grenzen zu und kein Krieg mehr. Alles wird besser, so wie es früher war. Wobei sie nicht sagen müssen, welches Früher sie meinen. Das Früher vor dem 11. September 2001? Das vor dem Mauerfall 1989? Oder das von 1933 bis 1945? Früher ist immer gut.

Falsches Verständnis von Populismus

Eine direkte Kontaktaufnahme mit diesen Gefühlen gilt in der politisch angeblich korrekten Politik als Populismus und hat zu unterbleiben. Das ist der größte Unsinn, den ich mir vorstellen kann. Und gefährlich dazu. Man schenkt diese Kräfte dem politischen Gegner.

Die in der Ära Merkel bis zur Perfektion getriebene Emotionslosigkeit im Umgang mit konkreten Bedrohungen ist eine Steilvorlage zum Beispiel für Sahra Wagenknecht und ihre Ein-Frau-Show, die weder ein richtiges Programm noch den Willen zur umfassenden politischen Gestaltung braucht. Es genügt, dass sie als einzige neben der bei klarem Verstand unwählbaren AfD das Wort „Frieden“ nicht verurteilt und die Ängste vor einer offenen Eskalation mit der zweitgrößten Atommacht der Welt ernst zu nehmen scheint.

Ich habe seit Jahrzehnten keine mitreißende Rede einer Politikerin oder eines Politikers in Deutschland mehr gehört, die mir das Gefühl gäbe, dass meine Angst in dieser und in anderen Fragen ernst genommen wird. Sollte jemand aus der politischen Mitte eine solche Rede halten wollen und sich nicht sicher sein, wie das geht, wäre ich gern bereit, bei ihrer Ausarbeitung zu helfen.

Ängste wirken sehr unterschiedlich

Darüber hinaus sollten sich Leute, die in schwierigen Zeiten regieren wollen, menschliche Angst von Fachleuten der Psychologie näher erklären lassen. Zum Beispiel die Angst vor dem Klimawandel im Vergleich zur Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und des Absinkens auf eine niedere soziale Stufe.

Die eine Angst erfordert wissenschaftliche Einsicht, in die Zukunft gerichtete Empathie und ein Verständnis dafür, dass zwei Grad mehr Wärme für das Ökosystem etwas anderes bedeuten als das Hochdrehen des Heizungsreglers im Wohnzimmer um eine Position. Die andere Angst ist unmittelbar, tagesreal und bedroht einen selbst sowie alle Menschen, die man liebt. Sie ist verbunden mit der Furcht vor Existenzvernichtung und tiefster Scham.

Gerade wer sich um das ökologische Gleichgewicht sorgt, sollte das verstehen, weil seine Interessen niemals gewinnen werden, wenn sie in direkter Konkurrenz zu diesen persönlichen Untergangsszenarien stehen.

Angst vor einem Atomkrieg ist für viele Deutsche real

Eine andere Angst ist die vor der weiteren Eskalation des Ukraine-Konflikts und der Atombombe. Ich glaube, hier hat ein Mensch meiner Generation aus dem Jahrgang 1961 ein anderes Empfinden als einer, dessen politisches Bewusstsein sich nach dem Ende des Kalten Krieges gebildet hat. Atombomben waren für uns seit der Kindheit real und Bestandteil vieler früher Alpträume.

Und sie haben, weil sie gegenseitige Vernichtung garantieren, von etwa 1955 bis 1990 auf die zynischste Art den Dritten Weltkrieg verhindert. Aber nur knapp. Seit 1990 weiß man, dass in zwei Fällen – durch Überreaktion (in der Kuba-Krise) und technisches Versagen (Zwischenfall vom 26. September 1983) – der nukleare Vernichtungsmechanismus fast in Gang gesetzt wurde und nur durch die Besonnenheit zweier sowjetischer Offiziere gestoppt wurde.

Einem Menschen wie mir ist klar, dass die Ukraine im Kampf gegen Russland und den Aggressor Putin nicht alleine gelassen werden darf und dass sie militärisch unterstützt werden muss, bis es eine politische Lösung gibt. Aber er verlangt von unserer Regierung und ihren Partnern ultimativ, dass sie alles dafür tun, damit es nicht zum inzwischen wieder Denkbaren kommt.

Wie ich mit dieser Angst umgehen soll, sagt mir von den Parteien der politischen Mitte keiner. Da höre ich nur Sahra Wagenknecht mit einfachen Antworten am Rand. Das ist ein großer Fehler. Und ich fürchte, obwohl ich lieber nichts wählen würde als eine extreme Partei, dass man die harten Konsequenzen dieses Fehlers nach den nächsten Wahlen wieder mit Fassungslosigkeit registrieren wird.