AboAbonnieren

Debatte nach Europawahl entbranntAfD-Erfolg bei jungen Wählern – Tiktoken die noch richtig?

Lesezeit 5 Minuten
Eine Lupe vergrößert den TikTok-Account von Alice Weidel, der Bundesvorsitzenden der Alternative für Deutschland. (Symbolbild)

Eine Lupe vergrößert den TikTok-Account von Alice Weidel, der Bundesvorsitzenden der Alternative für Deutschland. (Symbolbild)

Bei jungen Wählern steigert sich die AfD um elf Prozentpunkte. Schnell entbrennt eine Debatte: Ist die beliebte App TikTok schuld daran?

Kaum waren die Wahlergebnisse da, folgte für viele auch schon der Schock: Die AfD ist zweitstärkste Kraft in Deutschland – und ist bei den Wählerinnen und Wählern unter 24 Jahren sogar fast auf dem geteilten ersten Rang zusammen mit der CDU gelandet. 17 Prozent der teilnehmenden 16- bis 24-Jährigen wählten diesmal die Union – bei der vorangegangenen Europawahl 2019 waren es noch zwölf Prozent, ein Plus also von fünf Prozentpunkten. Für die AfD haben in der Altersgruppe 16 Prozent gestimmt – das sind sogar satte elf Punkte mehr. Doch wie kann das sein? Die Antwort kam bei einigen so schnell wie sie simpel ausgefallen ist: TikTok ist schuld!

Tatsächlich ist die AfD in der bei jungen Leuten sehr beliebten App überaus aktiv. Die demokratischen Parteien, insbesondere die Grünen, seien auf der Plattform unterrepräsentiert und hätten so das digitale Leitmedium weitgehend der AfD überlassen, kritisierte die Bildungsstätte Anne Frank. „Das Ergebnis verwundert nicht, wenn man sich anschaut, wo das Gros der jungen Menschen sich Informationen holt: auf TikTok“, sagte Bildungsstätten-Direktorin Deborah Schnabel.

Hohe Zugewinne für die AfD bei Jüngeren: Ist TikTok schuld?

Der Verdacht, dass die chinesische Social-Media-App für den Wahlerfolg der AfD eine entscheidende Bedeutung gehabt haben muss, äußerten aber nicht nur Experten. In den sozialen Netzwerken entbrannten am Sonntag schnell entsprechende Debatten, die bis heute andauern. „TikTok und Desinformation wirken“, hieß es da bei X. „Ich würde so gerne seriös erhoben haben, welche krasse Rolle TikTok an diesem Ergebnis hat“, schrieb derweil auch der ehemalige Bundesschülersprecher Dario Schramm.

Doch während wenig Zweifel daran aufkamen, dass die AfD bei TikTok den anderen Parteien enteilt ist, gibt es umso mehr Zweifel daran, ob das nun auch wirklich der entscheidende Faktor für den Wahlerfolg der rechtsradikalen Partei gewesen ist. Mittlerweile fallen die Einschätzungen manches Experten differenzierter aus.

„Populismus ist anschlussfähig – nicht nur bei jungen Leuten“

Bei jungen Leuten sei schon länger eine „Grundfrustration“ wahrnehmbar, erklärte so etwa der Hamburger Social-Media-Experte Martin Fuchs der dpa. Das habe zu Zeiten der Finanzkrise begonnen und sich bis nach der Corona-Pandemie durchgezogen: Es seien immer die Jüngeren gewesen, für die „am wenigsten Politik gemacht“ worden sei, so Fuchs.

Ein weiterer Grund für die vielen AfD-Stimmen von Jüngeren sei der Umgang der Bundesregierung mit Kriegen und Krisen. Der habe zu einer „maximalen Ernüchterung“ auch von Anhängern progressiver Ideen geführt, analysiert Fuchs. Die AfD habe hier einfache Antworten zu bieten. „Populismus ist anschlussfähig – nicht nur bei jungen Leuten.“ Die seien ohnehin nicht automatisch „links-progressiv“ eingestellt, „sondern haben auch teilweise ein vielleicht antisemitisches, rassistisches Weltbild“, so der Social-Media-Experte.

Demokratische Parteien machen Wahlkampffehler: „Das ist dann eine Art Trotzreaktion“

Allein auf die massive Tiktok-Präsenz der AfD könne der Erfolg der Rechtsradikalen also nicht zurückgeführt werden, befand der Experte. Beim Wahlkampf hätten die anderen Parteien schließlich auch große Fehler gemacht, erklärte Fuchs. Sie hätten sich an den rechten Kräften „abgearbeitet“ und sich in der Kommunikation darauf fokussiert, Rechtsextreme im EU-Parlament zu verhindern. Diese Strategie sei nicht aufgegangen. Dadurch hätten nicht nur junge Menschen erst recht die AfD gewählt. „Das ist dann eine Art Trotzreaktion“, die auch durch das immer wieder von der Partei bediente „Opfernarrativ“ verstärkt werde.

Doch wie fällt die Einschätzung unter denjenigen aus, die sich – zumindest grob noch – zu den „jungen Leuten“ zählen dürfen, die nun in den Fokus gerückt sind. „Jugend-Bashing“ sei trotz der „erschütternden“ Ergebnisse für die AfD nicht angebracht, findet Luisa Neubauer. Viele junge Menschen hätten sich „trotz Rechtsruck“ bei der Wahl auch für den Klimaschutz entschieden, erklärte die 28-Jährige und fügte an: „Zusammengerechnet haben Volt und Grüne – die beiden Parteien, die offensiv mit Klimaschutz Wahlkampf gemacht haben – mehr Prozent von den unter 24-Jährigen bekommen als die AfD.“

Sind TikTok und Jugend-„Bashing“ nun angebracht?

Und so wollte dann auch die Partei, die am meisten Stimmen von jungen Menschen verloren hatte, nicht in das Tiktok- und Jugend-„Bashing“ mit einstimmen. Den Erfolg der AfD nur mit dem starken Auftritt der Partei in dem sozialen Netzwerk zu erklären, sei „unterkomplex“, befand Grünen-Chefin Ricarda Lang.

Dass man den Rechtsextremen bei Tiktok zu lang den Raum überlassen habe, stehe zwar außer Frage. „Trotzdem glaube ich, es wäre unterkomplex, jetzt einfach nur zu sagen: Das ist Tiktok.“ Man müsse sich anschauen, welche Themen die jungen Menschen umtreiben und sich die Frage stellen, warum es bei so vielen einen Vertrauensverlust in demokratische Parteien und „gerade auch in uns Grüne“ gebe.

„El Hotzo“ und Luisa Neubauer kommentieren TikTok-Debatte

Erst Hinweise auf Gründe für die überraschende Wählerwanderung fanden sich unterdessen schnell in den sozialen Netzwerken. So kommentierte der Satiriker Sebastian Hotz, der bei X unter dem Namen „El Hotzo“ populär geworden ist, die aufkeimende Debatte gleich mehrmals. „Deutschland, wenn eine faschistische Partei 17 % bekommt“, schrieb Hotz zunächst zu einem Bild, das einen wütenden „M&M“ mit der Aufschrift „Scheiss Tiktok“ zeigte.

Später wurde Hotz dann konkreter: „Mein 21-köpfiger Thinktank (Jahresbudget 6,2 Millionen Euro) hat soeben herausgefunden, das tendenziell weniger 16-Jährige Faschisten wählen, wenn sie im Leben mehr erwarten können als 50 Jahre Arbeit und eine 2-Zimmer-Mietswohnung für 1200 Euro kalt“, schrieb Hotz – und deutete damit auf das hin, was in seinen Augen offenbar viel entscheidender für den AfD-Erfolg bei jungen Menschen als TikTok gewesen ist: Die politische Ignoranz den Zukunftssorgen und gegenwärtigen Problemen der jungen Wählergruppe gegenüber.

Tiktoken die jungen Wähler noch richtig?

Tiktoken die also noch richtig? Der überwiegende Teil vermutlich schon. Zumal das Wahlverhalten der unter 25-Jährigen ohnehin dem Gesamtergebnis entspricht: 16 Prozent der Stimmen gingen an die AfD, sowohl von jungen Menschen als auch insgesamt. Aber auch junge Wähler wollen offensichtlich gehört – und ernst genommen werden.

Es helfe nicht, einfach nur gegen die AfD zu schießen, „solange es keine wählbare Alternative gibt“, erklärte dazu Lara Eck vom Verein Campact. Die Kampagnen-Organisation hat sich eigenen Angaben zufolge in den letzten Monaten auf verschiedenen Plattformen dafür eingesetzt, Erstwähler vom AfD wählen abzuhalten.

„Solange die Ampelparteien so ungerechte Politik machen, Schulen verrotten, Schwimmbäder schließen, Busse und Bahnen nicht fahren usw. staut sich unfassbar viel Frust auf“, schilderte sie bei X ihre Eindrücke über die die Altersgruppe. Abhilfe schaffen könnten da nur „massive Investitionen in soziale Gerechtigkeit“, die so kommuniziert werden müssten, dass sie bei dieser Wählergruppe auch ankommen. Zum Beispiel bei TikTok also.