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Amber-AlertBraucht Deutschland ein neues Suchsystem für vermisste Kinder?

Lesezeit 4 Minuten
Eine Verkehrswarntafel an der kalifornischen Schnellstraße 5 in Los Angeles gibt am 1. August 2002 die Beschreibung eines in einem Entführungsfall verdächtigen Fahrzeugs. Der Wagen wurde kurz darauf entdeckt und gestellt - die Entführung zweier kalifornischer Teenager endete mit der Erschießung des Kidnappers und der Rettung der Mädchen. Mit dem erst vor kurzem eingeführten Alarmplan "Amber Alert" kann innerhalb weniger Minuten über Aufrufe in Rundfunk, Fernsehen und den Verkehrswarntafeln nahezu die gesamte Bevölkerung in die Fahndung nach Verbrechern einbezogen werden.

Eine Verkehrswarntafel an der kalifornischen Schnellstraße 5 in Los Angeles gibt am 2002 die Beschreibung eines in einem Entführungsfall verdächtigen Fahrzeugs. (Archivbild)

In den USA und in manchen europäischen Ländern werden vermisste Kinder mithilfe von Meldungen gesucht, die auf Handys verschickt werden können.

Der Fall der kleinen Valeriia sorgt deutschlandweit für Bestürzung. Das neunjährige Mädchen war Anfang Juni auf dem Weg zur Schule verschwunden und einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Am Freitag wurde ein Moldawier in Prag festgenommen, der 36-Jährige ist laut Chemnitzer Staatsanwaltschaft dringend tatverdächtig.

Die Polizei hatte tagelang intensiv nach dem Kind gesucht, ehe es tot aufgefunden wurde. Hätte ein digitales Warnsystem die Suche beschleunigen können?

Private Initiative fordert Einführung in Deutschland

Eine private Initiative fordert, auch in Deutschland das System Amber-Alert einzuführen, das aus den USA stammt. Es wurde 1996 ins Leben gerufen, nachdem dort die neunjährige Amber Hagerman entführt und ermordet wurde.

Die Abkürzung Amber steht zudem für „America’s Missing: Broadcast Emergency Response“. Wird ein Kind vermisst, können mithilfe eines Amber-Alerts Suchmeldungen auf digitalen Autobahnanzeigen, im Radio, Fernsehen und als Cell Broadcast über Handys verbreitet werden. Voraussetzung ist, dass die Polizei von einer Entführung ausgeht, und davon, dass unmittelbare Gefahr für das Kind besteht.

Belgische Polizei sucht via Social Media

Laut amberalert.eu nutzen auch einige, aber nicht alle europäischen Länder ähnliche Verfahren. So hat die belgische Polizei die Möglichkeit, über Social Media Suchmeldungen nach vermissten Kindern zu verbreiten. In Bulgarien können solche Meldungen per Cell Broadcast an Handys gesendet werden.

Deutschland nutzt Amber-Alert bisher nicht. Die private Initiative Vermisste Kinder setzt sich aber seit Jahren dafür ein, das System auch hierzulande einzuführen, und betreibt dazu die Seite Amber-Alert Deutschland. Auch die AfD strebt die Einführung des Systems an und hat dazu unter anderem einen Antrag im Landtag von Sachsen-Anhalt eingebracht. Die Polizei Sachsen-Anhalt lehnte die Forderung ab: Sie verfüge bereits über genügend Möglichkeiten. Zudem drohten eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte, negative Konsequenzen bei Falschmeldung sowie Langzeitfolgen für die Betroffenen, wenn Meldungen auch noch Jahre später unkontrolliert im Netz kursieren.

Die allermeisten Kinder kehren zurück

Tatsächlich ist völlig unklar, ob Amber-Alert sinnvoll zum Schutz von Kindern beitragen kann – oder nicht sogar negative Auswirkungen drohen. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass zwar häufig Kinder vermisst gemeldet werden. Im Jahr 2023 wurden in Deutschland laut Bundeskriminalamt (BKA) insgesamt rund 16.500 Kinder bis zum Alter von einschließlich 13 Jahren vermisst gemeldet. Die allermeisten vermisst gemeldeten Kinder kehren aber wohlbehalten zu ihrer Familie zurück: Die Aufklärungsquote lag laut Bundeskriminalamt in den vergangenen sechs Jahren bei 99,8 Prozent, ganz ohne die Hilfe von Amber-Alert.

Und auch die restlichen 0,2 Prozent sind nicht automatisch einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Bei zwei Dritteln dieser Fälle handelt es sich laut Bundeskriminalamt (BKA) um sogenannte Dauerausreißer oder „Streuner“ sowie um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die ihre Unterkunft verlassen haben. Oder um Kinder, die ihrem sorgeberechtigten Elternteil vom anderen Elternteil entzogen wurden.

Solche der Polizei angezeigten Fälle von Kindesentziehung werden als „Vermisstenfälle“ erfasst, solange eine Gefahr für die Kinder nicht völlig ausgeschlossen werden kann. In aller Regel seien die Kinder in diesen Fällen jedoch nicht gefährdet, da sie sich während ihrer „Abwesenheit“ in der Obhut eines Erwachsenen befinden, zu dem sie eine enge Bindung haben, erklärt das Bundeskriminalamt. In diesen Fällen könnte die öffentliche Aufmerksamkeit durch Amber-Alert eher schaden als helfen.

Kinder wurden nicht schneller gefunden

Nur beim verbleibenden, sehr geringen Anteil der vermissten Kinder ist laut BKA zu befürchten, dass diese Opfer einer Straftat oder eines Unglücksfalls wurden. Und nur bei diesen Taten könnte ein schnelleres Auffinden der Kinder also womöglich Schaden abwenden, und das Amber-Alert-System könnte theoretisch nützlich sein – wenn es denn funktioniert. Allerdings gibt es keine Belege für einen deutlichen Nutzen der Warnmeldungen

So hatten Forschende der Universität Nevada 472 Fälle ausgewertet, in denen von 2012 bis 2015 über Amber-Alerts in den USA nach vermissten Kindern gesucht worden war. Auch dabei zeigte sich, dass es sich in den meisten Fällen (71 Prozent) um Kindesentzug im Rahmen der eigenen Familie handelte, bei dem Kinder nur äußerst selten zu Schaden kommen. In einem Fünftel der Fälle hatte der Amber-Alert mit dazu beigetragen, ein Kind wiederzufinden. Die Kinder wurden dadurch aber nicht deutlich schneller gefunden. Zudem waren Kinder in den Fällen, in denen sie schneller gefunden wurden, nicht seltener zu Schaden gekommen.

Einen Beleg dafür, dass das System Schaden von vermissten Kindern abwenden konnte, fanden die Forschenden also nicht. Obwohl Befürwortende gerne behaupten würden, dass Amber-Alert Leben rette: Es sei völlig unklar, ob das System irgendeinem Kind das Leben gerettet habe, heißt es in der Studie.

Demgegenüber stünden zahlreiche Risiken der Alerts. Zu viele falsche Verdachtsmeldungen könnten die Polizeiarbeit behindern, Täter und Täterinnen könnten gar selbst die Polizei über das System in die Irre führen. Denkbar ist auch, dass Entführer und Entführerinnen sich durch die Aufmerksamkeit unter Druck gesetzt fühlen und noch gefährlicher werden. Und nicht zuletzt könnten die Alerts die öffentliche Wahrnehmung dafür verzerren, wo andere Gefahren für Kinder drohen.