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„Absolute Überforderung“333 geflüchtete Kinder und Jugendliche werden in NRW vermisst

Lesezeit 4 Minuten
Junge Geflüchtete laufen über den Hof einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Hameln (Niedersachsen).

Mehr als 50.000 sogenannte unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden in Europa vermisst. Davon rund 2000 in Deutschland.

Sie kamen alleine ohne Eltern, um in Europa vor Krieg und Konflikten geschützt zu sein. Nun kommt heraus: Immer mehr minderjährige Geflüchtete verschwinden auch in NRW spurlos.

In Europa gelten Zehntausende geflüchtete Kinder und Jugendliche als vermisst. Obwohl sie sich zuvor in Obhut europäischer Staaten befanden, dort – ohne ihre Eltern – alleine Schutz vor Kriegen und Konflikten suchten. Wo sie sich befinden, wissen die Behörden nicht.

Das hat zuletzt eine Datenrecherche des internationalen Journalistennetzwerks „Lost in Europe“ ergeben, zu dem unter anderem „CNN“, „De Standaard“ (Belgien), „NRC“ (Niederlande) und „Radio Berlin-Brandenburg“ gehören. 51.433 sogenannte unbegleitete minderjährige Geflüchtete aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Tunesien, Ägypten oder Marokko sind demnach in Europa zwischen den Jahren 2021 und 2023 verschwunden.

Überwiegend männliche Jugendliche zwischen 14 und 17

Davon werden 1991 in Deutschland vermisst (Stand: 30. April), wie das Bundeskriminalamt (BKA) dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ mitteilte. Es handelt sich überwiegend um männliche Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Mädchen machen mit fünf Prozent nur einen Bruchteil aus, jüngere Kinder bis 13 Jahre mit etwa 16 Prozent ebenfalls. Als vermisst gemeldet werden sie, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben und ihr Aufenthalt nicht bekannt ist.

Diese Zahlen haben sich in kurzer Zeit mehr als verdoppelt: Bei der Datenrecherche von „Lost in Europe“ aus dem Jahr 2021 lag die Zahl der europaweit vermissten Minderjährigen noch bei 19.292, in Deutschland waren es damals 792.

NRW-Ministerium: Junge Menschen „entweichen“, weil sie unzufrieden sind

Das nordrhein-westfälische Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration vermutet, dass die Zahl der Vermissten steige, weil schlichtweg mehr einreisen. So habe sich die Zahl der vorläufigen Inobhutnahmen von 2021 bis 2023 in NRW um fast 250 Prozent erhöht.

Oft würden die jungen Menschen „entweichen“, wie es das Ministerium bezeichnet, weil sie zu Familienangehörigen oder Freunden innerhalb Deutschlands oder dem europäischen Ausland weiterreisen wollen. In manchen Fällen bestehe zudem eine „Unzufriedenheit mit dem Ort der Zuweisung oder der Art der Betreuung und eine fehlende Bleibeperspektive“. Dem Ministerium seien „systembedingte Bruchpunkte“, bei denen die jungen Menschen aus dem Raster fallen, derweil nicht bekannt. Die Unterkünfte oder Aufnahmebedingungen seien demnach nicht das Problem.

Dennoch sind in Nordrhein-Westfalen laut dem zuständigen Landeskriminalamt aktuell 333 geflüchtete Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet. 173 sind seit dem vergangenen Jahr verschwunden, 64 weitere seit 2020.

Kölner Sozialarbeiter: Staat ist verpflichtet, gegen Kindeswohlgefährdung vorzugehen

Von den steigenden Zahlen ist Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat nicht überrascht. Der Geschäftsführer und Sozialarbeiter des Vereins, der sich seit 1984 für den Schutz und die Rechte von Geflüchteten einsetzt, attestiert der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland eine „absolute Überforderung“ im Umgang mit geflüchteten jungen Menschen. Er beklagt vor allem Defizite beim Personal und damit auch bei der Betreuung in den Einrichtungen.

Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer vom Kölner Flüchtlingsrat

Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer vom Kölner Flüchtlingsrat, meint, dass viele minderjährige Geflüchtete oft sich selbst überlassen sind.

Dies führe unter anderem zu langwierigen Aufnahmeverfahren. „Dabei verlieren die Kinder und Jugendlichen unglaublich viel Zeit“, sagt Prölß. Befinden sie sich in einer Landesunterkunft, können sie etwa nicht zur Schule gehen. Eine vernünftige psychische Betreuung gebe es meist ebenfalls nicht – obwohl viele sie dringend nötig hätten.

Viele der jungen Menschen mussten traumatisierende Gewalterfahrungen in ihren Heimatländern oder auf der Flucht machen. „Damit sind sie aber mehr oder weniger sich selbst überlassen“, sagt der Sozialarbeiter vom Kölner Flüchtlingsrat. Ihnen fehlt eine Perspektive. Viele geflüchtete Minderjährige entschließen sich laut Prölß dann dazu, die Einrichtungen zu verlassen und sich irgendwie selbst durchzuschlagen, „weil sie hier einfach nicht klarkommen und niemand da ist, der ihnen sagt, wo es lang geht“.

Der derzeitige Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten verstoße gegen geltendes Gesetz – unter anderem die UN-Kinderrechtskonvention – weil der Staat seinem Auftrag nicht mehr nachkomme, immer im Wohl des Kindes zu agieren. „Das ist allerdings auch kein Geheimnis, aber ich erkenne keine ernsthaften Konzepte oder Bemühungen, das zu ändern“, sagt Prölß. Vor allem müsse der Fachkräftemangel überwunden werden – dafür sind aber Investitionen nötig. „Das ist kein freiwilliges Geld, was ausgegeben werden müsste, es gibt vielmehr die Verpflichtung des Staates, gegen Kindeswohlgefährdung einzuschreiten“, sagt der Kölner Sozialarbeiter.

Stattdessen passiert genau das Gegenteil: Laut Fachleuten seien unbegleitete Kinder und Jugendliche besonderen Risiken ausgesetzt. Das Deutsche Kinderhilfswerk sprach gegenüber dem „rbb“ etwa davon, dass sie kriminellen Organisationen in die Hände fallen oder sexuellen Missbrauch erfahren könnten.

EU-Migrationspakt soll kaputtes Migrationssystem reparieren

51.433 – die Zahl der Vermissten, die „Lost in Europe“ recherchiert hat – spiegelt derweil nur einen Teil der heiklen Lage wider. Nur 20 von 30 angefragten Staaten (darunter auch die 27 EU-Nationen) haben dem Journalistennetzwerk geantwortet, und von ihnen haben nur 13 überhaupt Daten zur Verfügung gestellt. Die Dunkelziffer der vermissten Kinder und Jugendlichen, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, dürfte also groß sein.

Die Schwedin Ylva Johansson, zuständige EU-Kommissarin für Inneres und Migration, sprach im Interview mit dem „rbb“ von einem „kaputten Migrationssystem“.

Der EU-Migrationspakt, der im Mai verabschiedet werden soll, werde es reparieren, verspricht Johansson. Er sieht eine bessere Registrierung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten und auch europaweite Vorgaben zur Vermittlung von Betreuungspersonen vor.