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Inhaftierter Friedensnobelpreisträger„In den Strafkolonien werden die Menschen langsam getötet“

Lesezeit 6 Minuten
Natalia Pinchuk schaut aus dem Fenster

Natalia Pinchuk, Frau von Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki aus Belarus, ist froh, dass sie immerhin weiß, dass ihr Mann lebt.

Natalia Pinchuk, Frau des belarussischen Menschenrechtlers Ales Bjaljazki, erzählt in einem seltenen Interview von ihrem Mann, der Situation in Belarus und der Bedeutung des Kriegs in der Ukraine.

Die letzte Nachricht von Ales habe sie vor drei Wochen bekommen, sagt Natalia Pinchuk. „Es ist alles beim Alten“, habe er geschrieben, „Mach‘ Dir keine Sorgen“, oder: „Ich hoffe, es geht Dir gut“. Dürre, unverdächtige Sätze.

Sie wisse nicht, ob ihr Mann, der belarussische Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki, in einer Einzelzelle sitze. Wisse nicht, wie es ihm gehe, was ihm fehle, wonach er sich sehne. Ahne nur, dass es ihm nicht gut gehen könne. „Weil die Strafkolonien so angelegt sind, dass die Menschen dort langsam getötet werden, wir haben es an vielen Inhaftierten in Belarus gesehen.“ Sie zählt fünf Namen von politischen Inhaftierten auf, die in jüngerer Vergangenheit in belarussischen Gefängnissen gestorben sind.

Natalia Pinchuk steht in Oslo bei der Verleihung des Friedensnobelpreises auf einer Kanzel und hält eine Rde.

Natalia Pinchuk bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo 2022. Den Preis nahm sie für ihren inhaftierten Mann entgegen.

Natalia Pinchuk (60) weiß, dass die Sätze, die ihr Mann schreibt, nur etikettierte Botschaften sind, nichtssagende Stereotype. Und die einzige Möglichkeit, um mit ihm in Kontakt zu bleiben.

Ales Bjaljazki (61), Friedensnobelpreisträger von 2022 gemeinsam mit der russischen Menschenrechtsorganisationen Memorial und dem ukrainischen Zentrum für bürgerliche Freiheiten, wurde am 3. März 2023 in einem Schauprozess zu zehn Jahren Haft verurteilt —wegen vermeintlichen „Schmuggels“ und der „Organisation und Vorbereitung von Handlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen“. Verurteilt wurde er drei Monate nach der Verleihung des Nobelpreises, den Natalia Pinchuk für ihn in Oslo entgegennahm. Besuch empfangen darf Bjaljazki bis heute nicht.

Je nichtssagender die Briefe, desto zuverlässiger kommen sie an. Immerhin weiß ich dadurch: Ales lebt
Natalia Pinchuk, Frau von Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki

Seine Frau darf nicht mit ihm telefonieren, ihn nicht sehen. Im November 2022 habe sie ihn zuletzt besuchen dürfen, für eine Stunde, sagt sie. Bis vergangenen Herbst hätten sie sich über ihr gemeinsames Leben geschrieben, lange Briefe voller Erinnerungen an gute Tage. „Irgendwann kamen diese Briefe nicht mehr an.“ Angekommen seien nur noch Nachrichten im Telegrammstil; je nichtssagender, desto zuverlässiger. Leere Sätze, die immerhin eins verraten: „Ales lebt.“

Nicht alle Verwandten von politischen Gefangenen in Belarus wissen das. Das letzte Lebenszeichen von Maria Kolesnikova stammt von Februar 2023. Seitdem hat sie mit keinem Verwandten mehr sprechen dürfen. Niemand weiß, wie es Kolesnikova, die nach der Verhaftung des oppositionellen belarussischen Präsidentschaftskandidaten Wiktar Babaryka im Jahr 2020 an dessen Stelle in den Präsidentschaftswahlkampf eintrat, geht.

Das Gespräch mit Natalia Pinchuk, die seit mehr als 35 mit Ales Bjaljaziki zusammen ist und mehr als 20 Verhaftungen ihres Mannes miterlebte, findet über Videochat statt. Eine ukrainische Wissenschaftlerin übersetzt. Pinchuk befindet sich „vorrübergehend im Ausland“, so lautet die Sprachregelung. Ihren Aufenthaltsort gibt sie aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich preis. „Wir haben uns eine strenge Selbstzensur auferlegt, um zu verhindern, dass selbst unsere verstümmelte Form der Kommunikation verboten wird“, sagt Pinchuk. „Ich bin die einzige Person, die Kontakt zu Ales hat.“

Europa muss begreifen, dass Belarus ein Schlüssel zum Frieden in Europa ist. Belarus ist ein Vorposten Europas an der Grenze zu Russland
Natalia Pinchuk

Lieber als über Sorgen und Selbstzensur möchte die 60-jährige Pinchuk über Europas Gewissen sprechen. „Europa muss begreifen, dass Belarus ein Schlüssel zum Frieden in Europa ist. Belarus ist ein Vorposten Europas an der Grenze zu Russland.“

Es sei fatal, dass Belarus aus dem öffentlichen Blickfeld weitgehend verschwunden sei. Pinchuks Informationen nach werden in ihrem Heimatland täglich zehn bis 15 Menschen verhaftet, weil das Regime noch vier Jahre nach der friedlichen Revolutionsbewegung Demonstranten von damals mit Hilfe von Gesichtserkennungssoftware identifiziere – und willkürlich festnehme.

Natalia Pinchuk sitzt auf einer Couch, im Vordergrund ein T-Shirt mit dem Konterfei ihres Mannes Ales Bjaljazki

Natalia Pinchuk in Oslo, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises

Ob es sinnvoll wäre, wie gegen Russlands Präsidenten Vladimir Putin auch gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko ein Strafverfahren vor Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzustrengen? Den Warenhandel von Belarus über EU-Länder nach Russland zu stoppen? Natalia Pinchuk möchte nicht direkt darauf antworten. Sie sagt: „Es müssen alle notwendigen Einzelmaßnahmen getroffen werden.“ Wiederholt, dass der Krieg in der Ukraine der Schlüssel für die Zukunft Europas sei. „Ein Sieg der Ukraine würde den Zugriff Russlands auf Belarus entscheidend schwächen. Ein russischer Sieg würde ganz Europa destabilisieren.“

Mit harten europäischen Sanktionen nach der russischen Annexion der Krim und des Donbass wäre es nicht zum aktuellen Krieg gekommen
Natalia Pinchuk

Sie hoffe, dass die internationale Politik die Lehren aus der Geschichte gezogen habe: „Mit harten europäischen Sanktionen nach der russischen Annexion der Krim und des Donbass wäre es nicht zum aktuellen Krieg gekommen. Und mit einer entschiedeneren westlichen Politik hätte die Revolution 2020 zu einer Demokratisierung von Belarus führen können.“ Hunderttausende waren gegen Präsident Lukaschenko auf die Straße gegangen. Mehr als 33.000 Menschen waren festgenommen worden. Die von Ales Bjaljazki gegründete Menschenrechtsorganisation Viasna hatte mit mehr als 1000 Zeugen über Folter in belarussischen Gefängnissen gesprochen.

Belarus: Kurz nach Ales Bjaljazkis Verhaftung musste Pinchuk ihre Stelle an der Universität aufgeben

Kurz nach der Verhaftung von Bjaljazki im Jahr 2021 wurde Natalia Pinchuk gezwungen, ihre Stelle als Historikerin an der Universität aufzugeben. Längst lebt sie im Transit. Natürlich sei es schwer gewesen, sich ein anderes Leben aufzubauen, ohne ihn, ohne Sicherheiten. Der Friedensnobelpreis immerhin, den ihr Mann im Jahr 2022 zusammen mit der inzwischen verbotenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und dem ukrainischen Zentrum für bürgerliche Freiheiten erhielt, habe eine große internationale Aufmerksamkeit erzeugt. Anders als über die meisten politischen Gefangenen in Belarus werde über ihren Mann berichtet. „In Belarus selbst und für die politischen Gegner hat der Preis die Lage allerdings nicht verbessert.“

Als sie von ihrem gemeinsamen Leben erzählt, lächelt sie das erste Mal. Natalia Pinchuk und Ales Bjaljazki haben sich 1982 kennenlernt, bei der Hochzeit eines Cousins. Er war 20 und fand sie interessant, sie war 18 und bewunderte seinen Mut: Er sang in einer Band, auf belarussisch, was politisch unerwünscht war, und engagierte sich gegen die kommunistische Diktatur. Als Student der Literaturwissenschaft war er Teil einer illegalen Gruppe, die von einem demokratischen Weißrussland träumte. Sie hab erst nach und nach von seinem politischen Engagement erfahren, erinnert sich Natalia Pinchuk. „Auch damals musste man vorsichtig sein mit seinen Worten – aber wir haben schnell gemerkt, dass wir sehr ähnlich denken.“

Als Präsident Lukaschenko Massenproteste der demokratischen Opposition im Frühjahr 1996 gewaltsam niederschlagen ließ, gründete Bjaljazki seine Menschenrechtsorganisation Viasna („Frühling“), die schnell zu einer der wichtigsten Bewegungen von Regimekritikern wurde.

Es geht um alle politischen Gefangenen in Belarus, es geht um unser Land und die Zukunft Europas
Natalia Pinchuk

Er habe immer viel gearbeitet, sagt sie. Gleichzeitig habe er jede freie Minute mit dem gemeinsamen Sohn verbracht, der heute 35 ist. „Ales hat ihm jeden Abend selbst ausgedachte Geschichten erzählt, das war wunderbar.“ Sie lächelt. Die Geschichten haben sie sich lange in ihren Briefen erzählt. Jetzt erzählt sie sie Freunden, oder Journalisten.

Längst hat sie Angst um sein Leben. Es gehe aber nicht vor allem um Ales Bjaljazki, den Friedensnobelpreisträger, der zufällig ihr Mann sei. „Es geht um alle politischen Gefangenen in Belarus, es geht um unser Land und die Zukunft Europas.“ Als sie wiederholt, dass sich diese Zukunft in der Ukraine gerade entscheide, energisch wiederholt, dass sie hoffe, dass die Politik aus der Vergangenheit gelernt habe, kommen Natalia Pinchuk und der ukrainischen Übersetzerin die Tränen.