Der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister erklärt, warum die Kirchen mit einer kritischen Grundhaltung zur künftigen Bundesregierung schlecht beraten wären.
Verhältnis von Politik und KircheTheologe Sautermeister: „Ein neuer Schulterschluss von Politik und Kirchen“

Die Verhandler von CDU/CSU und SPD nach dem Abschluss ihrer Sondierungsgespräche (von links): Markus Söder (CSU), Friedrich Merz (CDU), Lars Klingbeil und Saskia Esken (beide SPD)
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In atemberaubender Geschwindigkeit haben sich CDU, CSU und SPD wenige Tage nach der Bundestagswahl auf das Vorhaben eines bis zu 900 Milliarden Euro schweren Sondervermögens verständigt. Die kriegerische Expansionspolitik Wladimir Putins und die Disruptionspolitik Donald Trumps, der die Zuverlässigkeit der USA als transatlantischer Bündnispartner infrage stellt, erfordern massive Investitionen in die deutsche Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit. Der gravierende Sanierungsstau und überfällige Infrastrukturmaßnahmen tun ihr Übriges.
Bundesregierung muss drängende Herausforderungen anpacken
Es ist unbestritten, dass enorme Anstrengungen unternommen werden müssen, um all die Aufgaben zu bewältigen, die jetzt akut sind und zugleich eine Investition in die Zukunft darstellen. Man muss davon ausgehen, dass die gegenwärtige Ausnahmesituation zur neuen Normalität werden wird.
Die künftige Bundesregierung hat in den kommenden vier Jahren zahlreiche drängende Herausforderungen anzupacken: Sicherheit und Verteidigung, Wirtschaft und Energie, Bürokratie, Migration, soziale Absicherung, Gesundheitssystem, Rente und Pflege. Es wird auf die nächsten vier Jahre ankommen, ob Deutschland angesichts der Zeitenwende die Kurve kriegt.

Jochen Sautermeister
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Die enormen Anstrengungen werden ihren Preis haben. Dabei besteht die reale Gefahr, dass extreme Akteure an den politischen Rändern die Situation zu ihrem Vorteil nutzen und die gesellschaftliche Polarisierung vorantreiben, aber auch, dass sich soziale Gräben vertiefen oder dass aufgrund einer Revision der Sozialausgaben Menschen aus dem Blickfeld geraten, die auf die solidarische Unterstützung des Sozialstaats angewiesen sind. Ohne bürgerschaftliches Engagement und die breite Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Akteure lassen sich die epochalen Herausforderungen nicht stemmen. Das sollte Anlass genug sein, auch das Verhältnis von Politik und Kirche zu überdenken, das zuletzt von spürbaren Spannungen geprägt war.
Es würde zu kurz greifen, nur kritisch auf Missstände hinzuweisen.
Die Kritik der Kirchen an der Migrationspolitik von CDU/CSU und die Zurückweisung durch deren Spitzenvertreter hat in der medialen Berichterstattung ein breites Echo gefunden. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat mit Genugtuung die Kritik der Kirchen gegen die CDU/CSU-Pläne ins Feld geführt. Da die künftige Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach von einem christlich-demokratischen Kanzler Friedrich Merz angeführt wird, ist die Versuchung ebenso groß wie nachvollziehbar, das Regierungshandeln regelmäßig auf seine „C“-Tauglichkeit zu befragen.
Die Kirchen wären jedoch nicht gut beraten, wenn sie ihre politische Aufgabe vornehmlich darin sähen, als kritisches Gegenüber zu Staat und Politik eine mahnende Haltung einzunehmen. Und es würde zu kurz greifen, wenn sich die Kirchen in ihren politischen Äußerungen und Stellungnahmen darauf beschränken würden, den Staat an seine Aufgaben zu erinnern und kritisch auf Missstände hinzuweisen.
Es ist gut, wenn sich die Kirchen deutlich als Teil der Gesellschaft zu erkennen geben.
Sicherlich: Wenn Politik die Würde von Menschen mit Füßen tritt; wenn Politik Menschen ausgrenzt und marginalisiert oder in prekären Situationen im Stich lässt; wenn Politik der Logik von Hass und Vergeltung, von Angst und Verzweiflung folgt; oder wenn Politik die freiheitlichen demokratischen Grundwerte der Verfassung missachtet – dann sind die Kirchen als kritische Instanz in der Gesellschaft unverzichtbar.
Die katholischen Bischöfe befassen sich diese Woche auf ihrer Frühjahrsvollversammlung im Kloster Steinfeld bei Kall auch mit der aktuellen politischen Situation und der Zusammenarbeit mit den demokratischen Parteien. Angesichts der immensen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft ist es gut, wenn sich die Kirchen in ihren öffentlichen Äußerungen deutlich als Teil der Gesellschaft zu erkennen geben. Immerhin knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung gehören einer der beiden großen christlichen Kirchen an.
Fakt ist: Ohne die Kirchen ließe sich die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaats nicht aufrechterhalten
Gemäß dem Gemeinwohlatlas Deutschland, einer breit angelegten Umfrage zum gesellschaftlichen Nutzen großer Organisationen und Institutionen, genießen Diakonie und Caritas ein sehr hohes Ansehen. Von 135 Institutionen nehmen sie Rang 10 beziehungsweise 14 ein. Während die evangelische Kirche immerhin auf Platz 18 liegt, schneidet die katholische Kirche auf Rang 101 auffallend schlecht ab.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zweifelsohne schlägt der Missbrauchsskandal zu Buche, aber auch Diskrepanzen zu gesellschaftlich anerkannten Werten wie Gleichberechtigung von Frauen, Anerkennung sexueller Vielfalt oder Partizipation, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Die Bewertung der katholischen Kirche sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kirchen in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen.
Fakt ist: Ohne die christlichen Wohlfahrtsverbände der Caritas und Diakonie, ohne die Kindertagesstätten und Kindergärten und ohne die Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime oder die vielfältigen Beratungsangebote in kirchlicher Trägerschaft ließe sich die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaats nicht aufrechterhalten.
Eine solche gesellschaftliche Ausrichtung würde manche binnenkirchliche Priorisierungsdebatte irritieren.
Angesichts der anspruchsvollen Lage, in der wir uns befinden, lohnt es sich daher zu fragen: Was können die Kirchen zur Bewältigung der immensen Herausforderung beitragen? Welche Angebote können die Kirchen der Politik machen, um ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen? Was benötigen Politik und Gesellschaft von den Kirchen?
Im Sinne einer unterstützenden Partnerschaft sollten die Kirchen gemeinsam mit Politik und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren an konkreten Lösungen für die Förderung des sozialen Zusammenhalts und des Gemeinwohls mitwirken. Eine solche gesellschaftliche Ausrichtung und ein damit verbundenes kirchliches Selbstverständnis würde so manche binnenkirchliche Priorisierungsdebatte irritieren, die sich angesichts der unvermeidlichen Sparmaßnahmen auf ein vermeintlich pastorales Kerngeschäft fokussiert.
Das Angebot einer unterstützenden Partnerschaft hätte Konsequenzen für die politischen Akteure.
Das Angebot einer unterstützenden Partnerschaft hätte aber auch Konsequenzen für die politischen Akteure und ihr Verhältnis zu den Kirchen. Politik müsste den Kirchen als gesellschaftlichen Akteuren auf Augenhöhe begegnen und sie als Partner anerkennen, die Mitverantwortung für das Gemeinwohl übernehmen.
Ein konstruktiver Schulterschluss von liberaler Demokratie und Kirche in Deutschland würde sowohl die liberale Demokratie als auch die Kirchen in ihrem gesellschaftlichen Auftrag stärken. Die Zeiten, in denen eine Zusammenarbeit zwischen Politik und Kirche selbstverständlich war, weil der größte Teil der Bevölkerung in der Kirche war und die meisten Politiker kirchlich sozialisiert waren, aber auch die Gesellschaft viel homogener war als heute, sind schon länger vorbei. Die gegenwärtige Zeitenwende bietet die Chance und die Notwendigkeit, das Verhältnis von Kirche und Politik zum Gemeinwohl neu auszugestalten.
Der Autor
Jochen Sautermeister, geboren 1975, ist Professor für Moraltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.