Wegen der Vorwürfe, er habe Frauen sexuell belästigt, zog er seine Bewerbung zurück. Nun stellen sich Teile der Anschuldigungen als erfunden heraus – und die Affäre wächst sich zum Skandal aus.
BundestagswahlFall Stefan Gelbhaar belastet den Grünen-Wahlkampf
Als der grüne Kreisverband Berlin-Pankow am 8. Januar zusammenkam, um seinen bisherigen Bundestags-Kandidaten Stefan Gelbhaar abzuwählen, ging alles sehr gesittet zu. Der Tagungsleiter rief zu einem „respektvollen Umgang“ auf. Tatsächlich kam der eigentliche Anlass der Zusammenkunft, die Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den seit 2017 amtierenden Bundestagsabgeordneten, auch nur am Rande zur Sprache.
Der Abend endete mit der nahezu geräuschlosen Nominierung von Julia Schneider, derzeit noch Mitglied des Abgeordnetenhauses, zur neuen Bundestagskandidatin. Sie betonte: „Wir sind nicht bei Gericht. Wir treffen eine politische Entscheidung. Das ist es, worum es heute Abend geht.“ Damit schien die Sache erledigt.
Am Freitag wurde nun bekannt, dass eine der Frauen, die Gelbhaar belastet hatte, eine angebliche Anne K., gar nicht existiert - sondern offenbar die Vorsitzende der Grünen-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte, Shirin Kreße, dahintersteckt. Kreße trat daraufhin aus der Partei aus.
Noch Mitte November war Gelbhaar abermals und ganz regulär zum Kandidaten bei der Bundestagswahl 2025 nominiert worden. Er erhielt 98,4 Prozent der Stimmen. Alles schien in bester Ordnung – zumal es der 48-Jährige es 2021 geschafft hatte, den Wahlkreis direkt zu gewinnen. Doch kurz bevor die Berliner Grünen die Landesliste wählen wollten, ging ein Dutzend Meldungen von Frauen ein, die alle den gleichen Inhalt hatten: den Vorwurf der sexuellen Belästigung gegen Gelbhaar.
Der Bundestagsabgeordnete hatte sich um den aussichtsreichen zweiten Platz der Liste bewerben wollen, zog seine Bewerbung aber kurzfristig zurück. Zwar sagte Gelbhaar, was er auch am Tag seiner Abwahl sagte: „Es gibt anonyme, falsche Anschuldigungen gegen mich. Sie werden sich auflösen.“
Gelbhaar verzichtet auf Bundestagskandidatur
Auf manche wirkte sein Verzicht auf eine Kandidatur für die Landesliste gleichwohl wie ein Schuldeingeständnis - nicht zuletzt deshalb, weil Gelbhaar bereits in der Vergangenheit wegen mutmaßlich unangemessenen Verhaltens im Gerede gewesen war. Vor diesem Hintergrund, so hieß es, könne er auch nicht mehr Wahlkreis-Kandidat in Pankow bleiben.
Seit am Freitag ruchbar wurde, dass zumindest eine der zwölf besagten Meldungen auf falschen Angaben beruht, sind die Grünen in Aufruhr. Die ehemalige Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Kerstin Müller, sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Es bestätigt sich immer mehr, dass hier wahrscheinlich mit einer Intrige eine nicht genehme Person beschädigt und aus dem Verkehr gezogen werden sollte.“
Müller, die von 1998 bis 2002 Vorsitzende der Bundestagsfraktion war und heute einfaches Parteimitglied in Berlin-Pankow ist, fügte hinzu: „Es kann kein Zufall sein, dass einen Tag vor der Listenaufstellung die Beschwerden bei der Ombudsstelle auflaufen und das auch noch der Presse gesteckt wird.“
Am Samstag meldeten sich die Vorsitzenden der Bundespartei, Franziska Brantner und Felix Banaszak, zu Wort: „Wer in einem solchen Verfahren falsche Aussagen an Eides statt tätigt, begeht im Zweifelsfall nicht nur eine Straftat, sondern fügt der gemeldeten Person, der Partei, aber auch den auf Vertrauen aufbauenden Strukturen und den anderen meldenden Personen erheblichen Schaden zu.“ Bis zur Entscheidung des Parteischiedsgerichts werde die Person „von der Ausübung aller Mitgliedschaftsrechte ausgeschlossen“. Der Parteiaustritt von Shirin Kreße ließ danach nicht lange auf sich warten.
Die Entscheidung über die Bundestagskandidatur im Wahlkreis Berlin-Pankow kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Frist, innerhalb derer Kandidaten gemeldet werden müssen, läuft an diesem Montag ab. Selbst wenn die Grünen es wollten: So kurzfristig könnten sie keine neue Mitgliederversammlung einberufen.
Weitere Intrigen bei den Grünen?
Trotzdem ist der Fall keineswegs erledigt. Für Gelbhaar, der Anzeige erstattet hat, geht es um seine persönliche Reputation und damit seine Zukunftsaussichten über die Wahl hinaus. Für die Grünen geht es um die Frage, ob zu der einen bekannt gewordenen Intrige weitere hinzukommen. Das ist auch von bundespolitischer Bedeutung. Auf Platz 2 der Landesliste wurde nämlich statt Gelbhaar Andreas Audretsch gewählt: Er managt den Bundestagswahlkampf der Gesamtpartei.
Die Union versucht deshalb, die Affäre mit dem Grünen-Spitzenkandidaten Robert Habeck in Verbindung zu bringen. „Die Grünen müssen jetzt für Transparenz und Aufklärung sorgen: Wie tief ist Andreas Audretsch in den Fall verstrickt – und was wusste Robert Habeck?“, sagte die stellvertretende CDU-Generalsekretärin Christina Stumpp. Sie sprach von einem „brutalen Hauen und Stechen in Habecks direktem Umfeld“.
Darauf, dass Audretsch oder Habeck persönlich in die Affäre verstrickt wären, gibt es keinerlei Hinweise. Trotzdem dürfte die Debatte nicht beendet sein, im Gegenteil. Die neue Grünen-Kandidatin in Berlin-Pankow, Julia Schneider, hatte am Abend ihrer Wahl erklärt, man müsse sich „wieder auf das Wesentliche konzentrieren“, die grünen Themen. Genau das dürfte einstweilen kaum möglich werden.