Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz hält Moskaus Kriegswirtschaft für „volkswirtschaftlich verheerend“. Von der Nato erwartet er ein Signal der Geschlossenheit.
Interview über die NatoChef der Münchner Sicherheitskonferenz: „Russland wird das nicht aushalten“
Herr Heusgen, die Nato feiert in dieser Woche beim Gipfel in Washington ihren 75. Geburtstag. Mit welcher Krise in der Geschichte des Bündnisses würden Sie die jetzige Weltlage vergleichen?
Christoph Heusgen: Da muss man schon sehr weit zurückgehen, bis zur heißesten Phase im Ost-West-Konflikt, zur Kuba-Krise, zum Mauerbau. Das waren sehr kritische Momente. Aber auch da hat sich das transatlantische Bündnis als sehr robust erwiesen. Die Nato ist das erfolgreichste Verteidigungsbündnis der Geschichte. Sie muss sich nicht neu erfinden. Sie muss das machen, was sie kann: Bündnisverteidigung.
Mehrere Staats- und Regierungschefs sind innenpolitisch angeschlagen – US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Kanzler Olaf Scholz. Wie geschwächt ist das Militärbündnis?
Das Gute an der Nato ist, dass sie als Institution sehr stark ist. Sie hat schon die ein oder andere politische Schwierigkeit überwunden. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine haben die Mitgliedsstaaten sehr eng zusammengestanden. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ist es nicht gelungen, die Ukraine zu überrennen. Vor fünf Jahren hatten wir neun Nato-Staaten, die das Ziel erfüllt haben, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Heute sind es 23 Länder. Die Nato funktioniert.
Welches Signal an Russland erwarten Sie vom Nato-Gipfel?
Den Zusammenhalt der Nato als Bündnis.
Donald Trump beklagt, dass die Europäer nicht genug für ihre Verteidigung bezahlten. Könnte ein Sieg des Herausforderers von Joe Biden bei der US-Präsidentschaftswahl das Ende der Nato einleiten?
Viele amerikanische Präsidenten haben zu Recht verlangt, dass es im Bündnis eine ausgeglichenere Lastenverteilung gibt. Es ist nicht einzusehen, dass die Amerikaner etwa 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben und Deutschland lange Zeit nicht einmal die Hälfte davon. Beim Nato-Gipfel vor einem Jahr in Vilnius wurden mit deutscher Zustimmung 2 Prozent als Untergrenze festgelegt.
Deutschland hat das in diesem Jahr erstmals eingehalten.
Aber derzeit nur durch das Sondervermögen Bundeswehr. Wir bräuchten eine Diskussion darüber, wie viel uns Sicherheit wert ist und worauf wir verzichten wollen, wenn wir die 2 Prozent langfristig im Haushalt verankern. Vor dieser Diskussion schreckt die Politik aber zurück. Dabei glaube ich, dass die Bürger dafür Verständnis haben.
Schauen Sie sich an, wie beliebt der Bundeskanzler war, als er seine Blut-, Schweiß- und Tränenrede am 27. Februar 2022 zu Russlands Überfall auf die Ukraine gehalten hat, oder wie beliebt Verteidigungsminister Boris Pistorius ist. Es ist besser, die Dinge klar auszusprechen. Wir erleben zu oft eine Politik, die zu wenig darstellt, was Putin macht.
Nämlich?
Er sagt, dass sein Ziel die Wiederherstellung der Sowjetunion beziehungsweise des Zarenreiches ist. Wir müssen viel klarer machen, dass Putin weiter militärisch vorgehen will und wir gegenhalten müssen. Denn wenn wir das nicht tun, steigt die Gefahr, dass Putin weitermacht und somit auch unser Risiko, reingezogen zu werden. Bei uns ist die Diskussion eine völlig andere als in Polen und in den baltischen Staaten, die uns immer wieder vor Putin warnen. Ich weiß nicht, wo wir intellektuell diesen Hochmut hernehmen, die Warnungen dieser Länder einfach zu ignorieren.
Über welchen anderen Weg als die militärische Stärke der Ukraine kann es zu einem Frieden kommen?
Putin wird auf Dauer große wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen. Er hat Russland auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die kann sich über einen gewissen Zeitraum erhalten, indem sehr viele Waffen produziert werden, aber mittelfristig ist sie volkswirtschaftlich verheerend. Russland wird das nicht aushalten. Wichtig wäre, dass wir mehr Druck ausüben auf Staaten wie China, Indien, die Türkei, die Emirate, also all jene, mit denen Russland noch sehr viele Geschäfte macht. So wird der Krieg verlängert.
Trump sagt, er würde den Krieg nach einem Sieg bei der Präsidentschaftswahl im November beenden, noch bevor er im Januar das Amt antreten würde. Ist das eine realistische Möglichkeit?
Trump ist jemand, der große Deals machen will. Er hat sich in seiner ersten Amtszeit beispielsweise daran versucht, das Nordkorea-Problem zu lösen, aber die Komplexität der Frage unterschätzt. Im Fall eines Sieges von Trump würde aber in jedem Fall der Druck auf Deutschland, auf Europa wachsen, die Ukraine noch stärker zu unterstützen.
Es ist nicht so, dass Putin ewig durchhalten kann. Jeden Tag sterben russische Soldaten. Das werden über kurz oder lang auch die Menschen in Moskau und Sankt Petersburg mitbekommen. Putin glaubt nur, dass er einen längeren Atem hat als wir. Wir müssen beweisen, dass er falschliegt. Und das haben wir als Bündnis doch geschafft im Kalten Krieg. Wieso glauben wir, dass wir das jetzt nicht schaffen können?