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Der vergessene MärtyrerNawalnys Unterstützung im eigenen Land schwindet

Lesezeit 7 Minuten
Alexej Nawalny, russischer Oppositionspolitiker, wird in einem Gerichtssaal in Wladimir per Videoverbindung aus dem Gefängnis zugeschaltet und ist auf einem Bildschirm zu sehen. (Archivbild)

Alexej Nawalny, russischer Oppositionspolitiker, wird in einem Gerichtssaal in Wladimir per Videoverbindung aus dem Gefängnis zugeschaltet und ist auf einem Bildschirm zu sehen. (Archivbild)

Am Freitag entscheidet ein Gericht, ob der Putin-Gegner für weitere 20 Jahre ins Straflager muss. Das Interesse daran sinkt in seinem Land.

In der Strafkolonie 6 in Melechowo, etwa vier Autostunden östlich von Moskau entfernt, lebt Alexej Nawalny an einem Ort, an dem Gewalt und Folter zum Alltag der Gefangenen gehört. Die Zeit, die der Kremlkritiker und Oppositionspolitiker dort hinter Gittern verbringen muss, könnte sich noch weiter ausdehnen.

Alexej Nawalny drohen weitere 20 Jahre Haft

Im Augenblick ist Nawalny zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt, von denen er zweieinhalb Jahre abgesessen hat. Das heißt: Er hat noch neun Jahre Gefängnis vor sich, zu denen nun noch die Haftstrafe dazukommt, die an diesem Freitag verhängt wird. Ausgemergelt, aber aufrecht hat er seinen aktuellen Prozess durchgestanden.

Er verteidigte sich gegen neue Vorwürfe der russischen Staatsmacht und tat dies vor allem, um sich im Gerichtssaal an die Öffentlichkeit wenden zu können. Dass er und seine Verteidiger kaum Einfluss auf das Urteil haben werden, war allen Beteiligten schon vorher klar. In Russland folgen die Gerichte fast immer weitgehend der Forderung der Staatsanwaltschaft, die in diesem Fall bei 20 Jahren Haft liegt.

Alexej Nawalnys Anwalt schließt nichts aus

Um die physische Gesundheit des 47-Jährigen steht es – nach allem, was man weiß – nicht gut. Ende April teilte sein Anwalt Wadim Kobsew mit, dass sein Mandant innerhalb von zwei Wochen acht Kilo abgenommen habe. Auf Twitter schrieb der Jurist außerdem, dass Nawalny unter so starken Magenschmerzen leide, dass sogar ein Notarzt habe gerufen werden müssen. „Eine unbekannte Krankheit, gegen die er nicht behandelt wird.“

Kobsew ging sogar so weit, nicht auszuschließen, dass Nawalny, der 2020 nur knapp einen Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok überlebt hatte, nun erneut gezielt krank gemacht werden solle. Er fordere deshalb eine toxikologische und radiologische Untersuchung des Oppositionspolitikers. „Das mag für andere wie Unsinn und Paranoia klingen, aber nicht für Nawalny nach Nowitschok“, erklärte der Jurist.

Ungebrochener Geist

Doch Nawalnys Geist ist ungebrochen. Dabei hätte ihm allein bei der Vielzahl der Straftaten, die ihm im Verfahren in Melochowo zur Last gelegt wurden, schwindlig werden müssen: Dem 47-Jährigen wurde jede nur erdenkliche Variante an Extremismus und Terrorismus vorgeworfen, die die Paragrafen des Strafgesetzbuches hergeben.

Russland ist unter Putin ausgerutscht und krachend zusammengebrochen und hat alles um sich herum zerstört.
Alexej Nawalny, inhaftierter Kremlkritiker

Dabei hat Nawalny nichts anderes gemacht, als Protestaktionen gegen den Kreml zu organisieren, Korruptionsfälle aufzudecken, mit seinen Regionalstäben bei lokalen Wahlen mitzuwirken, bei der Oberbürgermeisterwahl 2013 in Moskau anzutreten, und zu versuchen, dasselbe bei der Präsidentschaftswahl 2018 zu tun.

Und selbst wenn die absurden Extremismus- und Terrorismusvorwürfe zutreffen würden, könnte Nawalny in einem Rechtsstaat nicht dafür belangt werden, da die Anschuldigungen im aktuellen Prozess nun rückwirkend erhoben wurden. Sie beziehen sich auf seine politische Arbeit seit 2011, doch als „extremistisch“ wurden Nawalnys Regionalstäbe und sein Antikorruptionsfonds erst im Juni 2021 eingestuft. Da saß er schon längst in der Strafkolonie.

Eine Frage der Menschheit

Ungeachtet der rätselhaften Magenschmerzen, des Gewichtsverlustes und der schikanösen Isolationshaft, in der der Dissident nach Aussagen seiner Sprecherin Kira Jarmysch insgesamt knapp 200 Tage des bisher mehr als 900-tägigen Arrests verbracht hat, ist Nawalny geistig hellwach.

Als ihm im aktuellen Strafverfahren am 20. Juli das Schlusswort erteilt wurde, nutzte er es für eine geradezu philosophische Abrechnung mit der russischen Staatsmacht und den 18 Justizbeamten im Saal, von denen sieben ihr Gesicht hinter einer schwarzen Maske verbargen: „Die Frage, wie man handelt, ist die zentrale Frage der Menschheit“, referierte er. „Die Menschen haben lange nach der Formel gesucht, wie man das Richtige tut, nach etwas, auf das man die richtigen Entscheidungen stützen kann.“

Intellekt ohne Gewissen

Nawalny zitierte den russisch-jüdischen Literaturwissenschaftler Juri Lotman (1922–1993), der einmal zu seinen Studenten gesagt hatte: „Ein Mensch befindet sich immer in einer unvorhersehbaren Situation. Und dann hat er zwei Standbeine, auf die er sich stellen kann: das Gewissen und den Verstand.“ Beides, dozierte Nawalny vor Gericht, müsse zum Einsatz kommen. Das Sichstützen auf den Intellekt ohne das Gewissen sei aber genau das, was den Kern des russischen Staates derzeit ausmache.

Der Oppositionspolitiker fasste die Logik der Machthaber in Russland in etwa so zusammen: „Wir werden die früheren Zaren in puncto Reichtum abhängen. Wir haben so viel Öl, dass auch das einfache Volk etwas davon haben wird. Indem wir diese Welt der Widersprüche und die Anfälligkeit der Demokratie für uns instrumentalisieren, werden wir zu Herrschern, und alle werden uns respektieren. Und wenn nicht respektieren, dann zumindest fürchten.“

Doch wer so denke, veranlasse andere, dieselbe rücksichtslose Haltung einzunehmen: „Der Intellekt, unbeeinflusst vom Gewissen, flüstert: Nimm, stiehl. Wenn man stärker ist, sind die eigenen Interessen immer wichtiger als die Rechte anderer.“ Zum Problem werde dies, wenn man die eigene Stärke falsch einschätze, wie es bei dem militärischen Angriff auf die Ukraine geschehen sei: „Russland ist unter Putin ausgerutscht und krachend zusammengebrochen und hat alles um sich herum zerstört.“

Schwindende Unterstützung

Am Schluss seiner Rede forderte der Oppositionspolitiker die Beamten auf, sich ihm im Kampf für ein „freies und blühendes“ Russland anzuschließen. Dass Nawalny noch immer über die Zukunft eines „freien und blühenden Russlands“ redet, spricht für unverwüstlichen Lebensmut. Die Lage des 47-Jährigen aber ist ausgesprochen ernst. Er könnte noch viele, viele Jahre Arbeitslager vor sich haben. Alles deutet darauf hin, dass sich Wladimir Putin 2024 erneut für sechs Jahre zum Präsidenten wählen lassen will, und solange der 70-Jährige an der Staatsspitze steht, wird er seinem Widersacher kaum eine Begnadigung gönnen.

Außerdem wird Nawalny im Volk nicht als Märtyrerfigur wahrgenommen. So ist seine politische Bedeutung während seiner Haftzeit nicht nur nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Nach einer Umfrage des Levada-Zentrums, des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes Russlands, erklärten im Februar dieses Jahres nur 9 Prozent der Befragten, dass sie Nawalnys Handeln für richtig halten. Ein Jahr zuvor hatte die Zustimmungsrate für ihn noch bei 14 Prozent und kurz nach seiner Rückkehr nach Russland im Januar 2021 bei 19 Prozent gelegen.

Die Menschen spüren: Es ist einfacher, sich der Mehrheit anzuschließen, Teil des großen patriotischen Ganzen zu werden.
Andrei Kolesnikow, Publizist

Gleichzeitig bläst dem Dissidenten viel Ablehnung ins Gesicht: Laut Levada missbilligten im Februar 2023 die Umfrageteilnehmer zu 57 Prozent sein Tun (Februar 2022: 60 Prozent, Januar 2021: 56 Prozent). Und, vielleicht noch wichtiger: Die Zahl derjenigen, die ihn gar nicht kennen, stieg im Februar 2023 auf 23 Prozent der Befragten. Im Jahr davor war er nur für 14 Prozent ein Unbekannter.

Nawalnys Mitarbeiter im Exil

Die immer monströseren Strafen, zu denen Nawalny verurteilt wurde und voraussichtlich wird, führen außerdem nicht dazu, dass die Prozesse gegen ihn als ungerecht wahrgenommen werden. Im Gegenteil: 59 Prozent der von Levada Befragten bezeichneten die Urteile gegen den 47-Jährigen im Januar dieses Jahres als relativ fair und nur 21 Prozent als verhältnismäßig unfair. Im Februar 2022 hatten nur 44 Prozent der Umfrageteilnehmer von fairen Urteilen gesprochen und 27 Prozent von unfairen Gerichtsentscheiden gegen den Oppositionspolitiker.

Gut sieht es auch nicht für Nawalnys Mitarbeiter aus. Die wichtigsten von ihnen müssen aufgrund staatlicher Repressionen nun vom Ausland aus operieren. Sein Stabschef Leonid Wolkow floh nach Litauen und gibt dort Interviews. Iwan Schdanow, Direktor von Nawalnys Antikorruptionsfonds FBK, lebt inzwischen ebenfalls in der Baltenrepublik und betreibt dort einen Youtube-Kanal. Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch informiert über neue Entwicklungen inzwischen ebenfalls aus dem Ausland, von einem Ort, den sie aus Sicherheitsgründen geheim hält.

Wer sich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Oppositionspolitikers zum Bleiben entscheidet, lebt gefährlich: Im Juni wurde Lilija Tschanyschewa in Ufa aufgrund von Extremismusvorwürfen zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Die 41-Jährige hatte in der Millionenstadt Nawalnys Regionalstab geleitet.

Mehr als 100 Festnahmen

Als die Anhänger des inhaftierten Dissidenten am 4. Juni, seinem Geburtstag, für die Freilassung ihrer Galionsfigur demonstrierten, gab es mehr als 100 Festnahmen.

Das Anprangern von Korruption, womit Nawalny und sein Team in der Vergangenheit kolossale Aufregerthemen setzen konnten, funktioniert auch nur noch sehr eingeschränkt. Das Video „Ein Palast für Putin“ über eine überdimensionierte Luxusresidenz am Schwarzen Meer, die Russlands Präsidenten mutmaßlich zur Verfügung steht, löste bei seiner Veröffentlichung im Januar 2021 große Empörung aus und kam bei Youtube seither auf 127 Millionen Aufrufe. Als Nawalnys Team im Juni 2022 den Clip „Putin Miller Gazprom“ über den perversen Luxus publik machte, in dem der Gazprom-Chef und langjährige Putin-Gefährte Alexej Miller schwelgt, hielt sich die Aufregung hingegen sehr in Grenzen.

Es sieht so aus, als ob die Zuspitzung der geopolitischen Lage in der Ukraine den Fall Nawalny in Russland zu einem Nebenthema gemacht hat. Nach der Veröffentlichung des Miller-Videos sagte der Moskauer Publizist Andrei Kolesnikow von der Carnegie-Stiftung für den internationalen Frieden dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Die Menschen wissen schon lange, dass die Leute an der Spitze stehlen, also was soll’s? Wie schwer wiegt die Korruption gegenüber dem Umstand, dass wir uns jetzt im Kriegszustand mit dem Rest der Welt befinden, in dem alle gegen uns sind?“

Dass Nawalny die mediale Tagesordnung nicht mehr bestimme, zeige, wie sehr die innenpolitische Oppositionsbewegung marginalisiert worden sei, glaubt Kolesnikow: „Die Menschen spüren: Es ist einfacher, sich der Mehrheit anzuschließen, Teil des großen patriotischen Ganzen zu werden.“