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Expertin zum Tunnelkrieg in Gaza„Ein Albtraum und eine fast unmögliche Aufgabe“

Lesezeit 8 Minuten
Palästinensische Gebiete, Gaza: Israelische Soldaten durchsuchen einen Tunnel, der nach Angaben des Militärs von militanten Hamas-Kämpfern für den Angriff auf den Grenzübergang Erez im nördlichen Gazastreifen genutzt wurde.

Israelische Soldaten durchsuchen einen Tunnel, der nach Angaben des Militärs von militanten Hamas-Kämpfern für den Angriff auf den Grenzübergang Erez im nördlichen Gazastreifen genutzt wurde. (Archivbild)

Die Expertin Daphné Richemond-Barak erklärt, warum das einzigartige Tunnel-Netz Israel vor fast unlösbare Aufgaben stellt – und wie schrecklich es unter der Erde ist.

Daphné Richemond-Barak (45) ist Autorin des Buches „Unterirdische Kriegsführung“, die französisch-israelische Wissenschaftlerin lehrt an der renommierten Reichman-Universität in Herzlija nahe Tel Aviv. Das einzigartige Tunnelsystem der Hamas ist es, das der Terrororganisation nach Ansicht der Expertin derzeit die Oberhand im Gaza-Krieg gibt. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) spricht sie von einem „Albtraum“ – und sie erklärt, warum die international zunehmend kritisierte Kriegsführung Israels im Gazastreifen gerade wegen der Tunnel so schwierig ist.

Frau Richemond-Barak, im Gaza-Krieg ist immer wieder von den Tunneln der Hamas die Rede. Können Sie genauer erklären, was es damit auf sich hat?

Daphné Richemond-Barak: Die Hamas ist eine Terrororganisation und hat sich bewusst dazu entschlossen, im Gazastreifen das Äquivalent einer Militärbasis unter einer von Zivilisten bevölkerten Gegend zu bauen. Diese unterirdische Militärbasis enthält alles von Ausrüstung über Wohnquartiere und Munitionsdepots bis hin zu Munitionsfabriken. Die Tunnel verlaufen unter ziviler Infrastruktur wie Wohnhäusern oder Moscheen. Eingangsschächte finden sich in Wohnhäusern oder auch in Schulen.

Können Sie schätzen, auf was für eine Länge sich dieses Tunnelnetz erstreckt?

Niemand weiß das wirklich. Die Hamas spricht von einer Länge von 500 Kilometern, aber Hamas-Angaben sind unzuverlässig. Der Gazastreifen ist ein kleiner Flecken Erde, aber die Tunnel durchziehen das gesamte Gebiet und verlaufen in alle Richtungen. Sie befinden sich auf verschiedenen Ebenen. Sie gehen hoch, sie gehen runter, sie kreuzen sich, sie haben Abzweigungen. Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt einen Hamas-Kommandeur gibt, der die genaue Länge der Tunnel angeben könnte. Ich glaube, dass nicht alle von ihnen über alle Tunnel im gesamten Gazastreifen Bescheid wissen, was sicher auch eine strategische Entscheidung ist.

Ohne die Zerstörung der unterirdischen Infrastruktur der Hamas kann es kein Ende dieses Krieges geben.
Daphné Richemond-Barak

Ein solches Tunnelnetz muss doch seit langer Zeit in Entwicklung gewesen sein …

Die Hamas arbeitet seit fast zwei Jahrzehnten an diesem Projekt und hat von der Außenwelt viele Anregungen erhalten. Ihr heutiges Tunnelnetz ist meines Erachtens das größte und komplexeste, das wir in der Kriegsführung jemals gesehen haben. Da ist unglaublich viel Geld, Arbeit und Zeit reingeflossen. Die Hamas hat die Kunst der unterirdischen Kriegsführung wirklich perfektioniert.

Israelische Soldaten in einem Tunnel, den die Hamas am Tag des Angriffs aus Israel in der Nähe des GrenzübergangsGrenzübergang Erez genutzt haben soll.

Teil des Tunnesystems in Gaza: „Es ist feucht, es ist klaustrophobisch, es gibt kein Tageslicht, sagt Expertin Daphné Richemond-Barak“. (Archivbild)

Können Sie erklären, wie dieses Tunnelsystem aufgebaut ist?

Es gibt verschiedene Ebenen. Sie haben ältere Hamas-Tunnel in vielleicht zehn, 20 Metern Tiefe. Das sind Verbindungswege, rund einen Meter breit und zwei Meter hoch. Die Decken bestanden früher aus Holzbrettern, heute aus Zement, was sie viel widerstandsfähiger macht. Bunkertüren wurden installiert. Inzwischen gibt es auch Wohnräume. Stromversorgung, Belüftung und Kommunikation werden mit sehr einfachen Mitteln sichergestellt, sie reichen aber aus, damit die Hamas von dort aus operieren kann und ihre Kämpfer dort längere Zeit leben können. Und ich gehe davon aus, dass es noch eine weitere, tiefere Tunnelebene gibt, wo die Hamas-Führung sich derzeit versteckt.

Die Hamas hält israelische Geiseln in den Tunneln fest, die sie bei dem Terrorangriff am 7. Oktober verschleppt hat. Können Sie aus Ihrer Erfahrung berichten, wie es sich unter der Erde anfühlt?

Es ist feucht, es ist klaustrophobisch, es gibt kein Tageslicht. Wenn man in einen Tunnel geht, verliert man sehr schnell die Orientierung und das Gefühl für Zeit und Raum. Man merkt, dass einem Sauerstoff fehlt. Nach einer halben Stunde will ein normaler Mensch da raus. Das ist fast wie ein Überlebensinstinkt. Dass Hamas-Terroristen seit mehr als zwei Monaten dort unten sind, ist unglaublich. Der Grund dafür ist, dass sie dort Wohnräume haben, dass sie vor den Massakern in Israel am 7. Oktober alles Wasser und allen Treibstoff für die Belüftung und die Elektrizität heruntergebracht haben. Dass sich jemand so lange im Untergrund verschanzen kann, zeigt, dass er darauf eine Strategie aufgebaut hat.

Wie lange können die Geiseln unter der Erde überleben?

Ich werde das oft gefragt und sage immer, die Hamas hat sich darauf vorbereitet. Ich habe aber eine Einschränkung: Lebensmittel. Die Hamas hat große Mengen Wasser und Treibstoff eingeplant, die Versorgung mit Lebensmitteln ist aber komplizierter. Die Terroristen haben mehr Geiseln in ihre Gewalt gebracht, als sie geplant hatten. Menschen essen, man muss ihnen zumindest ein Minimum an Nahrung geben. Es ist sehr schwierig, Lebensmittel in die Tunnel zu bringen, und sie gehen schneller aus, als sie gedacht haben. Ich gehe davon aus, dass die Geiseln und die Terroristen dasselbe essen. Die Terroristen vielleicht etwas mehr, aber nicht viel mehr als die Geiseln.

Angehörige von freigelassenen Geiseln haben berichtet, dass in den Tunneln Löcher als Toiletten dienten. Wissen Sie, wie es mit Sanitäranlagen aussieht?

In Tunneln unter dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt haben israelische Soldaten Toiletten und eine Art Waschraum gefunden. Nichts, was ich gerne zu Hause hätte, aber genug, um damit über die Runden zu kommen. In einigen Tunneln gibt es solche Sanitäranlagen, in anderen nicht. Es hängt davon ab, wie lange die Hamas plant, sich dort aufzuhalten. An manchen Orten dient als Toilette nur ein Loch im Boden, wenn es voll ist, gräbt man ein anderes Loch. Es ist nie einfach, unter der Erde zu überleben, aber die Hamas hat es geschafft, es weniger einschränkend zu machen, als man denken würde.

Sie sagen, die Hamas habe beim Tunnelbau von anderen Akteuren im Ausland profitiert. Welche meinen Sie?

Die Hamas hat von der Hisbollah im Libanon gelernt. Die Hisbollah wiederum hat von Nordkorea gelernt. Im Hintergrund haben wir den Iran, der dazu beigetragen hat, dass die Hamas heute tiefer und widerstandsfähiger bauen kann als noch vor fünf Jahren. Die Iraner sind sehr gut darin, unterirdische Anlagen zu bauen, und da sprechen wir von Kilometern unter der Erde. Das zeigt übrigens, dass das nicht nur ein israelisches Problem ist. Es ist ein Problem der modernen Kriegsführung. Die Vertreibung der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) aus der irakischen Stadt Mossul durch die internationale Allianz hat auch wegen der Tunnel neun lange Monate gedauert.

Hat Israel die Gefahr durch die Tunnel nicht ernst genug genommen?

Als israelische Truppen 2005 den Gazastreifen verließen, begann die Hamas, wirklich in dieses Tunnelnetz zu investieren. Israel wurde zwar beim Aufspüren und bei der Neutralisierung von Tunneln immer besser. Aber das hat nicht dazu geführt, dass die Hamas mit dem Graben aufgehört hat. Stattdessen verlässt sie sich in ihrer Strategie immer mehr auf die Tunnel. Ich denke, dass Israel heute definitiv an der internationalen Spitze steht, was die Fähigkeiten unterirdischer Kriegsführung angeht. Das bedeutet aber nicht, dass die unterirdische Kriegsführung einfach wird.

Wie wichtig sind die Tunnel für die Hamas?

Das Tunnelsystem ist es, was der Hamas im Moment die Oberhand auf dem Schlachtfeld gibt. Ohne die Tunnel könnte die Hamas nicht überleben. Ohne die Zerstörung der unterirdischen Infrastruktur der Hamas kann es kein Ende dieses Krieges geben.

Was macht die unterirdische Kriegsführung so schwierig?

Das Wesen der unterirdischen Kriegsführung ist es, dass man mit dieser unsichtbaren und unberechenbaren Bedrohung zwar normalerweise keinen Krieg gewinnt, dem Gegner aber schwere Verluste zufügt, dessen Sieg verzögert und es für ihn unglaublich schmerzhaft macht, zu einem Ende des Konflikts zu gelangen. Im aktuellen Gaza-Krieg kommen noch zwei weitere Faktoren hinzu: dass die oberirdischen Kämpfe in einer städtischen Umgebung stattfinden und dass die Hamas israelische Geiseln in den Tunneln festhält. Es ist ein Albtraum und eine fast unmögliche Aufgabe.

Können Sie das näher ausführen?

Wenn man in einer städtischen Umgebung kämpft und Tunnel finden muss, muss man im Grunde genommen die Bevölkerung evakuieren und die Infrastruktur zerstören. Jedes leer stehende Gebäude stellt wegen möglicher Sprengfallen oder Scharfschützen eine immense Bedrohung dar. Um Tunnelschächte freizulegen, muss man einen Bulldozer einsetzen. In den Tunneln ist es noch schlimmer. Nachtsichtgeräte funktionieren nicht, GPS auch nicht. Man muss sich Gedanken darüber machen, wie man Bunkertüren durchbricht, und darüber, wie man Soldaten birgt, was fast unmöglich ist. Wenn es zum direkten Kampf kommt, ist man in diesem engen Raum im Grunde in einem Duell mit einem Gegner. Man ist sehr allein. Die militärische Doktrin sieht vor, zu vermeiden, Soldaten in die Tunnel zu schicken, eben weil es so gefährlich ist. Wenn man diesen Faktoren noch die Herausforderung durch die Geiseln hinzufügt, ist es fast unmöglich, diesen Krieg zu führen.

Eine Idee ist, das Tunnelsystem mit Meerwasser zu fluten, um es zu zerstören. Ist das naiv oder ein denkbares Szenario?

Es ist ein interessanter Vorschlag, der meiner Meinung nach Potenzial hat. Einzigartig wäre die große Menge von 100.000, 200.000 Litern Wasser in der Stunde, und der sehr hohe Druck. Es wäre keine Zauberlösung und würde nicht die gesamte unterirdische militärische Infrastruktur der Hamas zerstören. Manche Tunnel sind nicht miteinander verbunden, andere sind weiter vom Meer entfernt, es würde also nicht das gesamte Problem lösen. Aber vom Standpunkt militärischer Innovation würde ich sagen, man muss neue Ansätze ausprobieren. Israel muss das Tunnelnetz unbrauchbar machen. Nicht nur für die Hamas, sondern für jeden potenziellen Feind, der danach kommt.

Was ist aus Ihrer Sicht wichtiger – die Führung der Hamas unter ihrem Kommandeur im Gazastreifen, Jahja Sinwar, auszuschalten, oder die Tunnel zu zerstören?

Sinwar kann leicht davonkommen, dafür muss er nicht einmal an die Erdoberfläche. Er kann einfach die Tunnel vom Gazastreifen nach Ägypten nutzen. Und er kann Geiseln mitnehmen. Aber für mich ist das Ziel, die Tunnel zu zerstören, wichtiger als die Tötung selbst der Führungsspitze der Hamas. Man kann Terroristen und ihre Kommandeure immer ersetzen, aber diese Infrastruktur zu ersetzen, das wäre sehr schwierig. Und ohne sie wäre die Hamas wirklich in einer viel schwächeren Position.