Meron Mendels Buch „Über Israel reden“ ist seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober relevanter denn je. Im Gespräch erzählt er, wieso die Debatte in Deutschland so schwierig verläuft und was ihm Hoffnung macht.
Interview mit Meron MendelWarum wir in Deutschland anders über Israel sprechen müssen
Herr Mendel, seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober ist das Thema Israel medial wieder sehr präsent. Wie haben Sie die vergangenen zwei Monate erlebt?
Meron Mendel: Schon vor dem 7. Oktober gab es eine Kluft zwischen dem politischen Diskurs und der Haltung der breiten Bevölkerung. Diese Kluft ist jetzt wieder in Erscheinung getreten. Die Politik hat tatsächlich nach der Prämisse von Angela Merkel gehandelt, die die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärt hat. Innerhalb von ein paar Tagen waren Bundeskanzler Scholz und die Außenministerin Baerbock in Israel. Es gab vom ganzen politischen Spektrum Solidaritätsbekundungen mit Israel und eine Verurteilung der Hamas.
Und von der Bevölkerung?
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Solidaritätsbekundungen mit Israel waren nach dem 7. Oktober kein Massenphänomen. Die Reaktionen unterscheiden sich stark von denen auf vergleichbare islamistische Anschläge. 2001 haben sich in innerhalb von ein paar Tagen 200.000 Menschen vor dem Brandenburger Tor versammelt, um sich mit dem amerikanischen Volk und mit den Opfern des 11. September zu solidarisieren. Nach dem 7. Oktober kamen nur 10.000 Menschen vor das Brandenburger Tor, um gegenüber den Israelis das Gleiche zu tun. Auch in den sozialen Medien ist diese Solidarität ausgeblieben. Es gab kein „Je suis Charlie“ wie nach dem Anschlag auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ 2015. Und ich rede gar nicht über die zwei Monate des Krieges, sondern über die unmittelbare Reaktion nach dem Angriff der Hamas. Im Grunde genommen hat sich die Analyse, die ich mit „Über Israel reden“ im März dieses Jahres vorgelegt habe, am 7. Oktober bestätigt.
Meron Mendel beschreibt in „Über Israel reden“ die deutsche Debatte
Wie erklären Sie sich das?
Die Juden gelten in der deutschen und insgesamt in der westlichen Gesellschaft noch nicht als Teil des Kollektivs. Ein Angriff auf Amerikaner oder auf Franzosen wird automatisch als Angriff auf uns wahrgenommen, ein Angriff auf Israelis dagegen als Angriff auf jemand anderes. Ich rede hier von einem emotionalen Reflex, und dieser Reflex scheint im Fall von Israel nicht vorhanden zu sein. Nur sieben Prozent der Deutschen waren schon einmal in Israel, die Wenigsten können mit dem Land also etwas Reales verbinden. Es gibt keine tiefgehende Verbundenheit zu Israel, sondern eher einen distanzierten, misstrauischen Blick, der sehr stark durch den Nahostkonflikt geprägt ist. Man kann das aber auch historisch und politisch erklären.
Und wie?
Die wichtigsten Versöhnungsprojekte zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland hatten zum Ziel, Deutschland fest in der westlichen Welt zu verankern und so zu verhindern, dass sich etwas wie der Aufstieg des Nationalsozialismus wiederholt. Aber während Projekte wie die deutsch-amerikanische und die deutsch-französische Freundschaft von Anfang an einen Großteil der Bevölkerung mitnehmen sollten, war das deutsch-israelische Projekt ein Elitenprojekt. Es gibt in vielen Städten ein Amerikahaus oder ein deutsch-amerikanisches Institut. Mit dem Élysée-Vertrag wurde das Deutsch-Französische Jugendwerk gegründet, das jedes Jahr etwa 200.000 junge Deutsche nach Frankreich schickt. All das zielt darauf ab, dass das Wissen über das andere Land nicht nur bei einer schmalen Elite bleibt, sondern bei der gesamten Bevölkerung verbreitet wird. Und diese Maßnahmen waren nie wirklich für die Beziehung zu Israel gedacht.
Trotzdem hat eigentlich jeder in Deutschland eine Meinung zum Thema.
Der Diskurs über Israel hat eine stark identitätsstiftende Rolle für Menschen in Deutschland. Wenn wir über den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien in der Region Bergkarabach diskutieren, gibt es eine gewisse Distanz. Wenn da jemand die eine oder die andere Position vertritt, bedeutet das nicht gleich, dass der andere ein guter oder schlechter Mensch ist. Beim Israel-Palästina-Konflikt werden nicht nur politische Positionen verhandelt, sondern man beweist auch seine moralische Haltung. Und das macht diese Diskussion so aufgeladen. Das trägt dazu bei, dass wir nicht eigentlich über den Nahostkonflikt sprechen, sondern dass wir über uns selbst reden. Es ist, als würde zwischen uns und Israel ein Spiegel stehen, und wenn wir nach Israel schauen, sehen wir unser Spiegelbild.
Die Fronten verlaufen nicht nur zwischen Israelis und Palästinensern
Kann man die Debatte von dieser moralischen Selbstbestätigung lösen?
Es wäre gut, wenn man Israel nicht mehr als Symbol betrachten würde, sondern als realen Ort. Wenn man eine Position zu einem realen Ort beziehen will, muss man den gut kennen, sich informieren, möglicherweise auch mal dort sein. Und wenn man sich dann vertieft in diesen Konflikt, stellt man fest, dass die Fronten nicht nur zwischen Palästinensern und Israelis verlaufen. Man kann sie auch sehen zwischen den Radikalen auf beiden Seiten gegenüber liberalen oder friedlichen Kräften, die sowohl bei der palästinensischen als auch bei der israelischen Bevölkerung zu finden sind.
Haben es die gemäßigten Kräfte in Israel und Palästina nach der Eskalation nochmal besonders schwer?
Ich bin letzte Woche aus Israel zurückgekommen und habe mit sehr vielen Menschen gesprochen. Es gibt auch eine Dokumentation des ZDF über meinen Besuch. Kaum ein Mensch aus Israel hat keine Verwandten oder Freunde verloren. Aber trotz des Traumas vom 7. Oktober, trotz dieses unbeschreiblichen Schmerzes, den die Gesamtgesellschaft verspürt, haben die Leute, mit denen ich gesprochen habe, immer wieder betont, dass die einzige Lösung dieses Konfliktes Frieden sein kann. Und dass sie an dieser Vision und dieser Hoffnung auch festhalten. Das ist natürlich keine repräsentative Studie. Das sind die Menschen, die mir nahestehen, Menschen, die ich liebe, und darunter gibt es keine radikalen Siedler oder radikalen Palästinenser. Aber meine Freunde von beiden Seiten geben sich nicht geschlagen und haben sich trotz allem hoffnungsvoll gezeigt. Sie wollen an der Idee des Friedens weiter festhalten.
Und das können Sie und Ihre Freunde auch nach den schmerzhaften Erfahrungen der vergangenen Wochen?
Ich bin Israeli. Ich habe bei dem Massaker Freunde verloren. Das ist sehr emotional. Von daher bin ich natürlich nicht frei von Emotionen in diesem Konflikt. Nichtsdestotrotz denke ich, dass wir versuchen sollten, diese Debatte ein bisschen weniger emotional zu führen. Dass wir es damit vergleichen, wie wir über andere Konfliktregionen auf der Welt diskutieren. Wie in jedem Konflikt können auch hier konträre Meinungen erst mal diskursiv miteinander ausgetauscht werden, ohne den anderen gleich als den Bösen zu sehen. Jedenfalls solange die Grenze zu einer menschenverachtenden Ideologie nicht überschritten wird.
Sind Sie also hoffnungsfroh, dass ein Dialog zwischen Israelis und Palästinensern stattfinden kann?
Ich war zwei Tage bei einer Freundin von mir, die Schulleiterin einer jüdisch-arabischen Schule ist. Wenn man da ist, kann man nur hoffnungsvoll sein. Man sieht die Kinder in Grundschule, wie sie miteinander spielen und sich liebhaben. Auf dem Schulhof und in der Klasse kann man überhaupt nicht unterscheiden, wer jüdisch, palästinensisch, muslimisch ist. Man sieht, im Kleinen funktioniert das ganz gut, das wird einfach politisch nicht umgesetzt. Ich werde mich auch weiterhin für solche Projekte in Israel engagieren. Ich versuche, das von hier aus zu unterstützen, und gerade diese Kräfte innerhalb der israelischen Gesellschaft zu stärken.
Zur Person und zum Buch
Meron Mendel, geboren 1976 in Israel, ist ein deutsch-israelischer Professor für Soziale Arbeit und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank. Er wuchs in einem Kibbuz auf und studierte in Haifa und München Pädagogik und Jüdische Geschichte, bevor er in Frankfurt promovierte. Mit seinem Buch „Über Israel reden“ beschreibt er, wie die Debatte zum Nahostkonflikt in Deutschland verlaufen ist.
Zur Veranstaltung
Meron Mendel spricht am 17. Dezember um 11 Uhr in Köln über Israel und die deutsche Debatte zum Nahostkonflikt. Veranstaltungsort ist die Stadtbibliothek Köln, Josef-Haubrich-Hof 1. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 6 bzw. 4 Euro. Tickets gibt es im Vorverkauf über KölnTicket oder an der Tageskasse. Alle Infos gibt es hier.