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Politologe zu Corona-Demo„Man verbündet sich nicht mehr für ein gemeinsames Ziel“

Lesezeit 6 Minuten
Berlin Demo Reichstagsturm

Hunderte Demonstranten – darunter Rechtsextreme und sogenannte Reichsbürger – stürmten am Samstag die Treppe des Reichstags in Berlin.

  1. Hans J. Lietzmann ist Professor für Politikwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.
  2. Der Politologe spricht über große Demonstration gegen die Corona-Politik am vergangenen Wochenende in Berlin.
  3. Im Interview spricht der Professor über die Zusammenstellung der Gruppen, ihre Ziele wie Suggestrionskraft der Bilder und wie die Politik auf die Gefahren reagieren sollte.

Herr Professor Lietzmann, was sind das für Zeitgenossen, die sich zum Beispiel hinter der Initiative Querdenken verbergen?Lietzmann: Wir registrieren ja auch allgemein eine große Aversion gegen Parteien und etablierte Institutionen, es gibt regelrechte Bewegungen, die sich davon abspalten und abwenden und sich in losen Vereinigungen sammeln. Diese lassen viel Raum für Individualität – genau darin findet Querdenken seine Attraktivität: dass sich das Nicht-Organisierbare organisiert. Das macht zugleich die Chance aus, dass sich sehr viele unterschiedliche Menschen unter einem Dach zusammenfinden können, und es sorgt für diese groteske Irritation, die zustande kommt, wenn sich Menschen zusammenfinden, die eigentlich überhaupt nichts miteinander zu tun haben und sich sogar widersprechen.

Gibt es hinter den Lauten auch die Leisen, die sich ihren Teil denken – etwa: Warum darf ich meine Oma nicht besuchen, darf man in Kauf nehmen, wenn Restaurants schließen und die Wirtschaft den Bach runtergeht?

Wir können aus vielen Untersuchungen, die wir anstellen, festhalten, dass sich Menschen unter dem Schirm eines bestimmten Sachverhaltes treffen – aber mit völlig unterschiedlichen normativen Zugängen und auch einer völlig unterschiedlichen Betroffenheit. Das sehen wir im Verhältnis zur Migrationspolitik, aber auch im Rheinischen Braunkohlerevier, und wir sehen es eben auch bei der Bewegung gegen die Corona-Politik. Das hat seine Ursache in einem hohen Individualismus – jeder schaut nur noch auf sich selbst. Da verbündet man sich nicht mehr im Sinne eines gemeinsamen Zieles, sondern stellt nur noch fest, dass der andere auch gegen dasjenige oder diejenigen ist, gegen die ich auch bin. In der Querdenk-Bewegung finden sich sicher viele wieder, die sich berechtigte Sorgen um ihre alten Angehörigen oder ihre Kinder in der Schule oder um den öffentlichen Nahverkehr machen, die aber überhaupt nicht darauf achten, mit wem sich solidarisieren, welche Bündnisse sie eingehen.

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Rechtsradikale kapern solche Bewegungen.

Die „Naiven“, wie ich sie einmal nennen möchte, werden Opfer, sie werden ausgenutzt von zum Teil hochorganisierten Netzwerken, die zum Beispiel das Unwohlsein, das ganz normal ist angesichts einer Pandemie, für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.

Was haben etwa die sogenannten Reichsbürger davon, sich in diesen Sattel zu schwingen?

Lietzmann

Professor Hans J. Lietzmann

Sie haben davon, dass sie ihre Reichskriegsflagge nicht bloß vor vier Leuten schwenken, sondern vor zweihundert. Dass diese Bilder wirken, haben wir am Wochenende gesehen bei der Aktion vor dem Reichstag. Hätten da nur 40 Reichsbürger gestanden, kein Hahn hätte danach gekräht. Just auf diese Bilder aber, wie wir sie nun sehen mussten, kommt es den Strategen an. Das wissen alle etablierten, das wissen alle nicht-etablierten Parteien, und die „Reichsbürger“ wissen es auch.

Die Suggestionskraft der Bilder ist ein zentrales Motiv?

Das denke ich auf jeden Fall. Allein die Tatsache, dass sie die alten Reichsflaggen nutzen, bedeutet ein imaginatives Moment. Auch die Frage, ob Mundschutz oder nicht, hat eine eigene Bildmächtigkeit, also eine visuelle Wirkung. Bei solchen Demonstrationen geht es ja nicht um Argumente, sondern um Darstellungen. Auch der Protest der etablierten Parteien geht auf die Visualisierung ein, er wendet sich gegen die Bilder, die niemals hätten entstehen dürfen, wie es heißt.

Was kann, was muss die Politik tun, um mit diesem Phänomen adäquat zurecht zu kommen?

Sie muss zunächst einmal argumentieren, auch wenn sie dadurch in einer schwächeren Position ist. Denn Bilder sind nun einmal immer schneller und deutlicher als Argumente. Vor diesem Hintergrund kommt es dann aber auch für die etablierte Politik darauf an, visuell klarzumachen, dass man sich in dieser Gesellschaft momentan mit Mundschutz bewegt. Das ist ein wichtiges Element öffentlicher Politik und ihrer Selbstdarstellung.

Bedeutet es eine Gefahr für die Demokratie, was allgemein am Wochenende geschah und was im Besonderen die rechten Extremisten treiben?

Ich glaube, dass das, was am Wochenende geschehen ist und sich bereits vorher angedeutet hat, eine Gefahr nur dann ist, wenn nicht langsam klar wird, dass sich alle anderen dagegen äußern müssen. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass es eine kleine Gruppe gibt, die hart gegen die Corona-Politik opponiert. Diese Gruppe ist an sich ungefährlich, aber die Mehrheit muss das eindeutige Signal senden, dass sie mit deren Aussagen nicht einverstanden ist.

Es darf also nicht der Eindruck entstehen, dass diese verschwindende Minderheit so tut, als sei sie in Wahrheit viel größer und spreche gar für eine Art schweigender Mehrheit.

Würde diese Gruppe ein Monopol auf Bildlichkeit in Sachen Corona bekommen und niemand dagegen aufstehen, sich äußeren und ebenfalls Bilder produzieren, dann entsteht eine Gefahr. Wenn also der radikale Individualismus dieser Gruppen auf einen Individualismus der Gleichgültigkeit in der Restgesellschaft stoßen würde, dann käme es zu einem bedenklichen Ungleichgewicht. Die Zeit ist vorbei, da man so etwas bloß abhaken und behaupten konnte, man habe nichts damit zu tun. Das sind keine Randphänomene, und wir haben damit zu tun.

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Jetzt sind also Demos mit Mundschutz und Abstandsregeln gefragt?

Es geht ja nicht nur um Demonstrationen. Aber in jedem Geschäft, in dem die Hygieneregeln nicht eingehalten werden, muss man auf deren Umsetzung bestehen – auch das ist bereits ein Signal. Auch im Alltag muss man auf Mundschutz und Abstand bestehen, etwa im Nahverkehr. Das gehört zu unserer Zivilgesellschaft. Es ist kein Privatvergnügen, die Regeln für sinnvoll zu halten – es handelt sich vielmehr um eine gesellschaftliche Frage. Wir diskutieren über die Pandemie nicht deshalb so intensiv, weil einzelne Menschen krank werden; die Pandemie ist keine Frage von individueller Erkrankung, sondern von gesellschaftlicher Gefährdung und hängt deshalb unmittelbar mit politischen Prozessen zusammen.

Gibt es Parallelen zur Situation vor fünf Jahren, als Angela Merkel im Blick auf die Flüchtenden aus aller Welt sagte: Wir schaffen das! – viele aber ganz anders dachten und ihre Sorgen oft nur hinter vorgehaltener Hand artikulierten?

Die Parallele besteht in der Verunsicherung in der Gesamtgesellschaft. Die Flüchtlinge haben damals die tägliche Routine total durcheinandergebracht, und das bewirkt die Pandemie auch. Was man nicht vergleichen kann, ist der Grad der Organisiertheit von Akteuren, wie sie an diesem Wochenende aufgetreten sind. Das gab es damals noch nicht. Damals herrschte ein wuchernder Angstprozess in der Gesellschaft überhaupt, aber vor allem in Regionen, die mit Flüchtlingen überhaupt nichts zu tun gehabt haben – Ostdeutschland, Niederbayern und Teile von Baden-Württemberg. Jetzt aber gibt es die Trittbrettfahrer, die immer und überall versuchen, Angst zu instrumentalisieren für eine sehr gut durchstrukturierte rechte oder rechtsradikale Organisation.

Das Gespräch führte Frank Olbert.