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Interview

Reaktion auf Kritik
Drohen der Union Wähler der Mitte zu entgleiten, Herr Merz?

Lesezeit 8 Minuten
Der CDU Bundesvorsitzende und CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz, aufgenommen in Berlin vor seinem Büro im Bundestag.

Der CDU Bundesvorsitzende und CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz, aufgenommen in Berlin vor seinem Büro im Bundestag.

Im ersten Online-Interview nach den umstrittenen Abstimmungen im Bundestag unterstreicht Friedrich Merz, dass es keine Koalition mit der AfD geben werde.

Am Donnerstag – dem Tag, nachdem zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik im Parlament eine Mehrheit mit einer in Teilen rechtsextremen Partei zustande gekommen ist – treffen wir Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz auf der lichtdurchfluteten Fraktionsebene in der dritten Etage des Reichstagsgebäudes zum Interview.

Im Land hat die Union ein Beben ausgelöst, indem sie die Stimmen der AfD für ihre Anträge in Kauf genommen hat. Merz zeigt sich unerschüttert. Die ersten beiden Fragen des Interviews haben wir am Freitag nach der Bundestagsabstimmung zum umstrittenen „Zustrombegrenzungsgesetz“ ergänzt.

Herr Merz, Sie haben hoch gepokert, und verloren. Ihr Migrationsgesetz hat im Bundestag keine Mehrheit bekommen. Wie sehr schmerzt Sie diese Niederlage?

Friedrich Merz: Das war ein Highlight für die Demokratie, eine Sternstunde des Parlaments. Jetzt sind die Positionen für jeden noch mal klar geworden. Grüne und SPD sind nicht bereit, in der Migrationspolitik den Weg mitzugehen, den die Menschen sich wünschen. Wer hier einen Politikwechsel will, muss mit beiden Stimmen CDU und CSU wählen.

Die demokratischen Parteien haben in der Bundestagsdebatte kein gutes Bild abgegeben. War es das wert?

Auf jeden Fall war es das wert. Es war eine sehr intensive Debatte. Und dass mal etwas heftiger diskutiert wurde, gehört zur Meinungsbildung im Parlament dazu. Die Wählerinnen und Wähler haben nun ein klares Bild. Nach der Wahl werden die demokratischen Parteien der Mitte miteinander reden. Da habe ich keinen Zweifel.

Sie haben für Ihre Migrationspolitik AfD-Stimmen in Kauf genommen und damit einen Präzedenzfall geschaffen. Warum?

Wir sind in dieser unsicheren Lage, weil die Regierung gescheitert ist. Die auseinandergebrochene Ampel versucht weiter zu regieren, ohne parlamentarische Mehrheit. Ich suche keine anderen Mehrheiten als die in der politischen, demokratischen Mitte unseres Parlaments.

AfD und CDU/CSU heben zusammen die Hand im Deutschen Bundestag.

AfD und CDU/CSU heben zusammen die Hand im Deutschen Bundestag.

Und trotzdem ist es dazu gekommen, dass die Abgeordneten der Union gemeinsam mit denen der AfD die Hand gehoben haben.

Die Anträge, die wir in den Bundestag eingebracht haben, entsprechen seit langem unserer Meinung in der Sache. Und sie entsprechen den mehrfachen Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenzen. SPD und Grüne müssten also zustimmen können.

Nachdem Sie im November gesagt hatten, dass Sie keine Zufallsmehrheiten mit der AfD wünschen und in dieser Woche das Gegenteil zugelassen haben, müssen wir die Frage stellen: Bleibt es dabei, dass die Union keine Koalition mit der AfD eingehen wird?

Ja. Und wer daran irgendeinen Zweifel hat, der hat nicht zugehört, was ich in den vergangenen Jahren dazu gesagt habe. Es wird keine Zusammenarbeit mit der AfD geben.

Was hat bei Ihnen diese Wende ausgelöst?

Ich war einen Tag nach dem Anschlag in Magdeburg, und danach kam die Amoktat von Aschaffenburg. Das hat bei mir zu einem Umdenken geführt. Wir müssen jetzt Entscheidungen treffen.

Es gibt eine Mehrheit in Deutschland für ein strikteres Vorgehen in der Migrationspolitik. Erste Umfragen lassen aber den Schluss zu, dass die Mehrheit dies nicht mit Hilfe der Rechtsradikalen herbeiführen möchte. Haben Sie sich verkalkuliert?

Wenn wir das zur Abstimmung stellen, was wir für richtig halten, ist das eine klare und ohne Taktik getroffene Entscheidung. Rot-Grün muss den Menschen erklären, warum sie weiter tatenlos bleiben im Angesicht dieser Welle von Gewalt in unserem Land.

Laut Umfragen stehen etwa ein Drittel der Unionsanhänger dem Kurs kritisch gegenüber. Drohen Sie die Wähler der Mitte zu verlieren?

Das glaube ich nicht. Ich empfinde es als ehrenhaft, dass in der Union auch kritische Stimmen gibt. Die Vizevorsitzende der CDU, Karin Prien, gehört dazu. Aber uns alle eint, dass wir die illegale Migration begrenzen wollen.

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert Sie dafür, dass Sie AfD-Stimmen in Kauf genommen haben. Ist diese Kritik für Sie relevant?

Angela Merkel drückt ein Unbehagen aus, das von vielen – auch von mir – geteilt wird. Ich habe in den drei Jahren immer wieder Gesprächsangebote an SPD und Grüne gemacht. Das hat vor allem der Bundeskanzler immer abgelehnt. Wir als Union wollten immer Lösungen in der demokratischen Mitte finden und möchten das auch weiterhin.

Wie wollen Sie sicherstellen, dass durch Ihr Vorgehen nicht der Druck auf die CDU-geführte Minderheitsregierung in Sachsen wachsen wird, gemeinsam mit der AfD Beschlüsse herbeizuführen?

Ich gehe davon aus, dass sich die CDU-Abgeordneten in allen Landesparlamenten an unsere Beschlusslage halten. Nämlich, dass es eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht gibt. Was diese Woche im Bundestag geschehen ist, ist keine Zusammenarbeit. Wir haben Anträge gestellt und die AfD hat zugestimmt. Es gab keine Gespräche, keine Absprachen. Übrigens ist auch Olaf Scholz der Meinung, dass eine demokratische Partei sich nicht vom Abstimmungsverhalten der AfD abhängig machen solle.

Die Empörung bei SPD und Grünen über Ihr Vorgehen ist sehr groß. Rechnen Sie damit, dass Sie nach der Bundestagswahl zur Tagesordnung übergehen oder werden mögliche Koalitionsgespräche belastet sein?

Von meiner Seite aus gibt es für Belastungen keinen Grund. Ich gebe zu: Das ist ein hartes Vorgehen gewesen, aber es war hoffentlich auch ein Weckruf für SPD und Grüne. Und wenn ich es richtig sehe, gibt es ja nicht nur kritische Stimmen bei uns, es gibt auch sehr, sehr kritische Stimmen bei den Sozialdemokraten. Sie drängen innerhalb der SPD darauf, dass die Sozialdemokraten sich bewegen und in der Migrationspolitik zu Kompromissen bereit sind. Die Bürger erwarten das von der Politik.

Schauen wir nach vorne. Sollten Sie Bundeskanzler werden: Welche Maßnahmen wollen Sie in den ersten 100 Tagen Ihrer Kanzlerschaft umzusetzen?

Es geht für uns in den ersten 100 Tagen vor allem um drei Themen: Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Migration. Die Wirtschaft muss von uns wieder Verlässlichkeit bekommen. Dazu gehören Steuererleichterungen für die Unternehmen, und ein schneller Bürokratieabbau durch eine Rücknahme des Lieferkettengesetzes. Das System des sogenannten „Bürgergeldes“ wollen wir vom Kopf auf die Füße stellen. Die Vorarbeiten, etwa für schärfere Sanktionen, sind im Arbeitsministerium ja schon gemacht. Den Namen „Bürgergeld“ werden wir auch nicht weiterverwenden. Und in der Migrationspolitik werde ich am ersten Tag meiner Amtszeit Zurückweisungen an den Grenzen anordnen.

Das Stichwort Klima ist nicht gefallen. Gilt für Sie das Pariser Klimaabkommen und das 1,5°C-Ziel?

Das Ziel, die Erderwärmung auf möglichst 1,5°C zu begrenzen, bleibt richtig. Wir werden allerdings versuchen, es anders zu erreichen als die Ampel: Nicht mit Verboten und Regulierung, sondern mit Innovationen, Technologie und mit vernünftigen marktwirtschaftlichen Instrumenten.

Und es bleibt dabei, dass Deutschland bis 2045 treibhausgasneutral werden will? Die EU hat sich 2050 zum Ziel gesetzt.

Wir sollten nicht nur auf Kalenderdaten schauen, sondern versuchen, das Problem so schnell wie möglich zu lösen. Vielleicht erreichen wir die Klimaziele schneller, vielleicht dauert es ein Jahr länger. Wichtig ist, dass wir die richtigen Instrumente in Gang setzen und, dass vor allen Dingen nicht ständig nachjustiert werden muss.

Das arbeitgebernahe Wirtschaftsinstitut IW sagt, dass im Wahlprogramm der Union etwa 100 Milliarden Unterdeckung stecken. Woher wollen Sie das Geld nehmen?

Das IW hat statisch gerechnet auf der Basis der heutigen Zahlen. Vor der Klammer aller Maßnahmen steht das Ziel, dass wir wieder ein Potenzialwachstum von mindestens 2 Prozent bekommen. Das ist ambitioniert, aber machbar. 2 Prozent Wachstum für unsere Volkswirtschaft sind 90 Milliarden Euro höhere Wirtschaftsleistung pro Jahr, und daraus ergäben sich rund 20 Milliarden Euro höhere Steuereinnahmen.

Wann könnte das zur Realität werden?

Das hängt an vielen Faktoren, nicht zuletzt an der Weltkonjunktur. Aber wenn man die Prognosen des IWF und der OECD sieht, dann könnten wir mit den richtigen politischen Weichenstellungen in vier Jahren wieder da sein, wo wir einmal waren: in der Spitzengruppe der Europäischen Union und der Eurozone. Wirklich herausfordernd werden auf diesem Weg der notwendige Rückbau der Bürokratie und die Beschleunigung der Digitalisierung.

Wenn Ihre Rechnungen aufgehen, dann bleibt die Schuldenbremse wie Sie ist – nämlich fest angezogen?

Es ist richtig, dass wir die Schuldenbremse im Grundgesetz haben. Mit den Ländern diskutiere ich darüber, ob sie mehr Spielraum benötigen. Aber bevor wir über eine Reform diskutieren, müssen wir über eine Neuordnung der Prioritäten im Haushalt sprechen.

Sie planen ein Digitalministerium. Setzen Sie auf jemand Externen für den Job?

Ich denke ernsthaft darüber nach. Wir haben sehr gute und sehr kluge Digitalpolitiker in der Fraktion. Es ist nur so: Die Transformationserfahrung, wie man also einen großen Apparat von analog auf digital umstellt, die haben wir in der Politik nicht. Und da wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn jemand von außen kommt.

Blick über den Atlantik: Wie schnell würden Sie, sollten Sie Bundeskanzler werden, versuchen, einen persönlichen Termin bei US-Präsident Donald Trump zu bekommen?

Sehr schnell. Die transatlantischen Beziehungen sind sowohl sicherheitspolitisch als auch wirtschaftspolitisch für uns die wichtigsten internationalen Beziehungen. Ich hoffe, dass das auch in der Zukunft so bleibt. Ich würde gerne von Trump wissen, wie er über Europa denkt, was er von uns erwartet. Und ich werde ihm sagen, was wir von ihm erwarten.

Zum Beispiel, dass er den Ukraine-Krieg beendet?

Es geht zumindest um gemeinsame Analysen und darum, dass Europa und Amerika in solchen Konflikten eine abgestimmte politische Strategie verfolgen.

Wäre es denkbar, dass deutsche Soldaten unter einem internationalen Mandat zur Friedenssicherung in die Ukraine gehen?

Aus heutiger Sicht stellt sich diese Frage nicht. Dieser Krieg muss zunächst beendet werden. Und solange die Ukraine im Krieg ist, ist es für mich überhaupt nicht vorstellbar, dass deutsche Soldaten dort eingesetzt werden. Ich würde mich einer Diskussion über eine internationale, mit unseren Partnern abgestimmte Friedensmission nicht verschließen, aber davon sind wir weit entfernt. Klar ist und bleibt: Deutschland darf nicht Kriegspartei werden.

Bekäme die Ukraine unter Ihrer Führung die Taurus-Marschflugkörper? Die Briten haben vergleichbare Systeme geliefert.

Es wäre richtig gewesen, Taurus zu liefern. Wir werden uns im Lichte der Lage in der Ukraine diese Frage noch einmal stellen. Ich würde sie nur beantworten in Übereinstimmung mit den Briten, den Franzosen und den Amerikanern.

Vor dem Hintergrund, dass Trump sein Begehr nach Grönland sehr klar gemacht hat, fürchten Sie um den inneren Zusammenhalt der Nato?

Die Dänen nehmen die Aussagen von Trump sehr ernst. Ich werde alles tun, um unser Vorgehen zunächst einmal in der EU abzustimmen. Wir sollten auch die Briten schnell mit ins Boot holen, damit Großbritannien auch auf unserer Seite steht.

Wird Deutschland künftig noch deutlich mehr für die Verteidigung ausgeben müssen – eher drei als zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts?

Wir müssen mehr tun, das ist keine Frage. Wir müssen aber auch darüber reden, wie wir das Geld ausgeben. Ein Beispiel: Wir haben in der EU 17 unterschiedliche Panzersysteme, die Amerikaner zwei. Ich sehe einen enormen Bedarf an Vereinfachung und an Standardisierung und eben auch an größeren Stückzahlen. Wir geben in Europa zusammen schon heute mehr Geld für Verteidigung aus als die Amerikaner. Da müssen wir uns einfach besser abstimmen.

Zur Sozialpolitik. Große Nöte gibt es in allen großen Systemen: Rente, Gesundheit, Pflege. Braucht es möglicherweise eine parteiübergreifende Enquete-Kommission Sozialsysteme, die Reformvorschläge macht?

Wir haben bei diesem Thema in Deutschland kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. 2003 hat die CDU mit der Herzogkommission umfassende Vorschläge zur Reform des Sozialstaates gemacht. Die wurden von der SPD dann heftig kritisiert. Ich bin bereit, über alles Notwendige nachzudenken. Für mich steht fest: Wir brauchen mehr Eigenverantwortung.

Und das heißt?

Ich fände es klug, wenn wir den Menschen einen ökonomischen Anreiz geben, das Gesundheitssystem effizienter zu nutzen. Also zum Beispiel könnten Versicherte entscheiden, ob sie bei der Nutzung der endlich eingeführten elektronischen Patientenakte Datenschutzbedenken zurückstellen und die Möglichkeiten der E-Patientenakte voll umfänglich nutzen. Wenn ja, würden sie zum Beispiel 10 Prozent niedrigere Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Der Vorteil wäre, dass Datennutzung im Vordergrund stehen würde und wir das System moderner aufstellen könnten.

Die CSU fordert eine Mütterrente III, Kostenpunkt: 4,45 Milliarden Euro. Hat dieses Wahlversprechen eine Chance auf Umsetzung?

Ich verstehe das Anliegen der CSU. Nur müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass wir in Zeiten knapper Kassen Politik gestalten. Mir ist wichtig, dass wir die Kita-Infrastruktur ausbauen und mehr gute Betreuungsmöglichkeiten für die Familien bieten.

Einer Forsa-Umfrage zufolge sind 66 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Meinung, dass die Parteien in Deutschland nicht ausreichend kompromissfähig sind. Ist dieser Wert Ansporn für Sie, es besser zu machen?

Wir haben in dieser zu Ende gehenden Wahlperiode keine gute Kooperation zwischen Regierung und Opposition erlebt. Wir müssen in der politischen Mitte zu Regierungsbildungen kommen, die in diesem Lande wirklich die notwendigen Veränderungen auslösen. Die Opposition kann die AfD nicht halbieren, wenn die Regierung diese Partei verdoppelt. Dänemark beispielsweise hat das Migrationsproblem gelöst und damit die Rechtspopulisten gestoppt. In modernen Gesellschaften wird es immer Konflikte geben. Die Frage ist: Reicht es aus, was die etablierten Parteien leisten, um eine dauerhafte Mehrheit in der Bevölkerung zu gewinnen? Und diese Frage ist noch nicht abschließend beantwortet.