CDU-Chef besorgtMerz wirft Linken „Cancel Culture“ vor – Hohn und Spott auf Twitter
Köln – Gerade noch hatte Friedrich Merz mit seinem Privatflugzeug für Wirbel gesorgt, nun steht der CDU-Chef erneut im Fokus der Debatte. Mit Aussagen in einem Interview mit „Welt“ hat der 66-Jährige am Dienstag viele negative Reaktionen in den sozialen Netzwerken provoziert. Merz benannte die sogenannte „Cancel Culture“ als die in seinen Augen „größte Bedrohung“ für die Meinungsfreiheit. „Linken Aktivisten“ warf der CDU-Chef zudem den Missbrauch des Begriffs „Kampf gegen rechts“ vor, „um gegen völlig legitime Meinungen des demokratischen Spektrums oder sogar wissenschaftliche Erkenntnisse vorzugehen.“
Unter „Cancel Culture“ verstehen Befürworter des Begriffs zum Beispiel die Absetzung von Vorträgen, Ausstellungen, Konzerten, Filmbeiträgen von Personen oder Organisationen, denen beleidigende, diskriminierende, rassistische, antisemitische, verschwörungsideologische, frauenfeindliche oder homophobe Aussagen beziehungsweise Handlungen vorgeworfen werden. Kritiker des Begriffs verweisen unterdessen immer wieder darauf, dass Meinungsfreiheit nicht Widerspruchslosigkeit bedeute.
Friedrich Merz: „Teile unserer Gesellschaft sind regelmäßig auf einem Auge blind“
„Wenn man sieht, zu welchen Auswüchsen dieser ‚Kampf gegen rechts‘ führt, dann muss man schon sagen: Teile unserer Gesellschaft sind regelmäßig auf einem Auge blind“, führte Merz seine These aus. Die „Zensurkultur“ schwappe nun von „Universitäten in den USA“ nach Europa.
Ein Beispiel dafür sei der Wirbel um einen Vortrag einer Biologin an der Berliner Humbolt-Universität, der – wie Merz es beschreibt – nach „Drohungen einiger Studenten“ von der Universität zunächst abgesagt und später unter Sicherheitsvorkehrungen nachgeholt worden war. „Das ist das Gegenteil von Wissenschaftsfreiheit und legt die Axt an eine der wichtigsten Errungenschaften einer aufgeklärten Gesellschaft.“
Umstrittener Vortrag an der Humbolt-Universität in Berlin verschoben
Tatsächlich war es im Vorfeld des umstrittenen Vortrags der Biologin Marie Vollbrecht mit dem Titel „Warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt“ zu Protesten an der Humbolt-Universtität gekommen. So hatte der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ zum Gegenprotest aufgerufen. Die Universitätsleitung sagte den Vortrag schließlich aufgrund der aufgeheizten Lage zunächst ab.
Die Biologin hatte zuvor an einem umstrittenen Kommentar in der „Welt“ mitgewirkt. Darin wurde dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Indoktrination von Kindern und eine ideologische Betrachtungsweise vorgeworfen. Springer-Vorstandsvorsitzender Matthias Döpfner hatte den Text später als „intolerant, herablassend und ressentimentgeladen, wissenschaftlich bestenfalls grob einseitig“ bezeichnet. Ähnlich lautete schließlich auch die Kritik an Vollbrecht vor dem geplanten Vortrag, für den sich Merz nun mit seinen Aussagen indirekt einsetzte.
Soziale Netzwerke reagieren mit Kritik und Hohn auf Merz' These
Die Reaktionen auf Merz‘ These ließen am Dienstag jedenfalls nicht lange auf sich warten. „Es ist immer wieder dreist, wenn ein Mitglied einer Partei, die trotz unzähligen Maskendeals, Korruption und Lobbyismus-Affären immer noch im Bundestag sitzt, von Cancel Culture spricht“, schrieb der Comedian Shahak Shapira. „Wir können in Deutschland nicht mal die canceln, die gecancelt gehören.“
„In den USA, wo ein rechter Mob auf Geheiß Trumps das Kapitol stürmt, Vergewaltigungsopfern eine Abtreibung verwehrt wird, Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungsideologien auf dem Vormarsch sind, soll also linke Cancel Culture die größte Bedrohung für Meinungsfreiheit sein?“, fragte der Wuppertaler SPD-Abgeordnete Helge Lindh rhetorisch.
„Friedrich Merz plaudert über Cancel Culture leider sehr einseitig und mit ärgerlicher Faktenferne“
Der stellvertretende Vorsitzende der Linken, Lorenz Gösta Beutin, warf Merz unterdessen ein Ablenkungsmanöver vor: „Wer von Cancel Culture redet, wie Merz und andere Rechte, will ablenken: von Ungleichheit, von Menschen, die kaum über die Runden kommen, von ausgebremster Energiewende und Klimakatastrophe.“ Sascha Lobo meldete sich ebenfalls zu Wort: „Friedrich Merz plaudert über Cancel Culture leider sehr einseitig und mit ärgerlicher Faktenferne“, schrieb der Autor und Journalist bei Twitter.
Unter Merz‘ Tweet, in dem er seine These aus dem Interview noch einmal wiederholt hatte, fanden sich überwiegend negative und teilweise höhnische Reaktionen auf die Worte des CDU-Chefs. Auch seine Kontakte zu US-Politiker Lindsey Graham, der als eine der Triebfedern hinter der populistischen Linie der Republikaner gilt, wurden Merz oft vorgehalten.
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„Es gäbe sehr viel, was einem in den USA große Sorgen machen muss, z.B. die Entrechtung von Frauen und sogar minderjährigen Mädchen, deren Recht auf ein selbstbestimmtes Leben gecancelt wird“, schrieb die ehemalige FDP-Politikerin Mareile Ihde und wünschte Merz „viel Spaß bei Ihrem Treffen mit Lindsey Graham, der diese Politik mitverantwortet“.
Vereinzelt gab es jedoch auch Unterstützung für Merz‘ These. „Cancel Culture ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft“, schrieb der FDP-Politiker Olaf in der Beek. „Wer anderen vorschreiben will, was sie sagen oder hören dürfen, ist undemokratisch.“
Der Zeit-Journalist Jochen Bittner fand unterdessen einen Mittelweg: „Eine Cancel Culture oder ‚Zensurkultur‘ gibt es in Russland, Iran oder der Türkei. Wir haben eher ein Problem mit feigen Institutionen, die vor (der Angst vor) Diffamierung einknicken und dadurch die Meinungsfreiheit beschädigen.“