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Grüne Ministerin Josefine Paul im Interview„Wir fördern kein Denunziantentum!“

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Familienministerin Josefine Paul im Interview in der Redaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“

KölnFrau Paul, Corona hat viele Spuren hinterlassen bei Kindern und Eltern. Es gibt Kita-Kinder, die ein Jahr Förderung und Betreuung verpasst haben. Es sind sprachliche und motorische Defizite entstanden. Starten diese Kinder gleich mit einem Minus in ihre Bildungskarriere?Paul: Das Entscheidende ist, dass wir alles dafür tun, Schulen und Kitas offenzuhalten. Dementsprechend haben wir frühzeitig unsere Strategie für Herbst und Winter vorgestellt, Eltern anlassbezogene Tests zur Verfügung zu stellen und das Kita-Helfer-Programm zu verlängern. Es gibt unterschiedliche Aspekte wie die motorische Entwicklung, die sozial-emotionale Entwicklung, die Sprachentwicklung, die wir verstärkt im Blick haben. Wichtig ist, dass wir erkennen, was Kinder, Jugendliche und ihre Familien in den vergangenen zwei Jahren auf sich genommen und welche Solidarität sie geleistet haben. Das müssen wir jetzt zurückgeben. Zudem sind aber auch rund 100 Millionen Euro mehr in den Bereich der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit geflossen und knapp sieben Millionen in den Bereich der Frühen Hilfen. Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen besteht aus mehr als nur Kita oder Schule. Das ist in der Debatte oft zu kurz gekommen.

Wie läuft das Programm mit Alltagshelferinnen und -helfern?

Paul: Das Programm ist in der Corona-Zeit angelaufen, um die pädagogischen Fachkräfte zu unterstützen und diese insbesondere bei Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen zu entlasten. Das ist von den Trägern und Einrichtungen sehr gut angenommen worden und wird als große Bereicherung empfunden. Tausende Menschen haben so den Weg als Beschäftigte in eine Kindertageseinrichtung gefunden. Wir haben das Programm bis Ende des Jahres verlängert und wollen es danach verstetigen, weil es ein wichtiger Baustein ist, um den Kitas dauerhaft Entlastung zu verschaffen.

Quereinstieg und Anerkennung ausländischer Abschlüsse

Der Fachkräftemangel ist das brennende Problem in den Kitas. Wie wollen Sie schnell Abhilfe schaffen?

Paul: Fachkräfte gewinnen wir, indem wir Ausbildungsplätze schaffen. Deren Zahl ist in den vergangenen Jahren erhöht worden, und daran werden wir weiterarbeiten. Aber wir brauchen daneben weitere Maßnahmen: angefangen bei der schnelleren Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse bis zu der Frage, wie man einen Quereinstieg qualifiziert organisieren kann. Aber es geht auch um die Frage, welche Arbeitsbedingungen und welche Entwicklungsmöglichkeiten man vorfindet.

Das läuft nicht ideal, würden Sie sagen?

Paul: Was die berufliche Entwicklung angeht, ist noch Luft nach oben. Das ist ein wichtiger Aspekt neben der Frage der Bezahlung, braucht es berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Auch danach suchen sich Menschen ihren Beruf aus.: Übe ich 40 Jahre die gleiche Tätigkeit aus, oder ergeben sich, selbst wenn ich in derselben Einrichtung bleibe, neue Perspektiven? Wir setzen uns dafür ein, dass der Beruf noch attraktiver wird.

Ungleiches ungleich behandeln

Wenn man mit Grundschulleitungen spricht, gerade in sozialen Brennpunktbezirken wie Chorweiler oder Kalk, kommen in hohem Anteil Kinder aus den Kitas in die Schule, die nicht ausreichend Deutschkenntnisse haben. Sollte man nicht nach dem Vorbild der sogenannten Brennpunktschulen in diesen Bezirken auch die Kitas zu stärken?

Paul: Wir müssen Ungleiches ungleich behandeln. Kinder haben unterschiedliche Startbedingungen – wir wollen aber, dass alle Kinder in Nordrhein-Westfalen faire Zukunftschancen haben. Aus diesem Grund gibt es beispielsweise die Familienzentren, die genau dort ansetzen. Sie nehmen nicht allein das Kind in den Blick, sondern bieten den Familien insgesamt niedrigschwellige Unterstützungsangebote an. Wir unterstützen daneben mit unserem Programm „kinderstark“, mit dem Präventionsketten vor Ort geknüpft werden und verschiedene Fachbereiche wie Gesundheit, Bildung, Kinder- und Jugendhilfe und Soziales zusammenarbeiten. Schließlich werden wir auch einen Pakt gegen Kinderarmut ins Leben rufen.

In NRW gibt es zudem Plus-Kitas. Was versteht man darunter?

Paul: plusKITAS sind Einrichtungen in speziellen sozialen Lagen, die mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet werden, um weitere Stellen zu finanzieren. Damit tragen wir dem Prinzip „Ungleiches ungleich behandeln“ Rechnung.

Was sind weitere Leitlinien ihrer Familienpolitik? Sie haben gesagt, ihr Ministerium sei ein Ministerium, das die ganze Gesellschaft angeht.

Paul: Das ist die Klammer. Wir wollen faire Chancen für die Menschen in Nordrhein-Westfalen. Das beginnt bei den Kleinsten und geht weiter über die Frage, wie wir Familien ein gutes Zuhause bieten können. Eine wichtige Rolle spielt auch die Gleichstellung: Wie wollen wir Geschlechterverhältnisse gleichberechtigt gestalten und Möglichkeiten für alle schaffen? Darüber hinaus ist mein Haus auch für die Fragen von Flucht und Integration zuständig. Hier bildet sich ab, dass Nordrhein-Westfalen ein vielfältiges Land ist. Wir begreifen die Vielfalt als Chance und Potenzial. Diese Potenziale zu heben, ist eine Frage von Rahmenbedingungen, die die Politik verbessern – und in manchen Bereichen schaffen – muss. Für unser Land ist beispielsweise die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und ausländischer Qualifikationen wichtig. Daneben haben wir rasch einen Vorgriffserlass für das vom Bund geplante Chancenaufenthaltsrecht erarbeitet. Wir wollen alle humanitären und aufenthaltssichernden Bleiberechtsregelungen ausschöpfen, damit gut integrierte, geduldete Geflüchtete eine Bleibeperspektive erhalten können. Dass Menschen, die hier lange leben und sich Perspektiven erarbeitet haben, keinen geregelten Aufenthaltsstatus besitzen, ist kein akzeptabler Zustand.

Gibt es Projekte, die Sie mit dem Vorsatz angehen, es ganz anders zu machen als Ihr Vorgänger Joachim Stamp von der FDP?

Paul: Es geht gar nicht nach dem Motto: Alles neu macht der Mai. Vielmehr gibt es gesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimakrise, die Frage nach sozialer Teilhabe für alle, die aktuelle Energiekrise als Auswirkung des Krieges in der Ukraine und die Inflation. Das ist, so glaube ich, nicht der Zeitpunkt zu diskutieren, wo ich mich abheben will. Es geht darum, nach Antworten zu suchen. In meinem Fachbereich lege ich den Fokus darauf, wie wir die Familien unterstützen und den Menschen, die aus Krisen- und Kriegsgebieten zu uns kommen, Sicherheit bieten können.

Junge Menschen fühlen sich nicht wirklich gesehen

Wie wollen Sie sicherstellen, dass Kindern von der Politik mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird? Oft hat man den Eindruck, sie kämen an letzter Stelle.

Paul: Gerade in der Corona-Krise haben wir deutlich vor Augen geführt bekommen, dass Politik bislang nicht ausreichend auf die Kinder achtet. Das muss uns aber umtreiben: Wenn ich Studien lese, in denen einerseits junge Menschen betonen, dass sie Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen wollen, andererseits aber beklagen, dass sie nicht wirklich gesehen und wahrgenommen werden, dann dürfen wir uns mit diesem Befund nicht zufriedengeben. Denn er ist alarmierend und eine Aufforderung, dass wir diejenigen, die heute bereits Verantwortung übernehmen wollen und dies in der Zukunft tun müssen – dass wir diese Menschen beteiligen. Dazu gehört die im Koalitionsvertrag vereinbarte Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und auch den Aktionsplan Jugendbeteiligung. Es geht darum, dass junge Menschen, ihre Ideen, ihre Vorstellungen, aber auch ihren Frust besser in politische Prozesse einbringen können. Und natürlich: Leben findet vor Ort statt. Wir werden darüber sprechen, ob im Rahmen der Gemeindeverordnung Jugendbeteiligung noch verbindlicher gestaltet werden kann. Es geht darum zu klären, welche Fragen Kinder und Jugendliche beschäftigen – nur der Spielplatz, oder nicht vielleicht auch die Verkehrspolitik?

Viele Familien, gerade solche, die sozial benachteiligt sind, bringen aber oft nicht die Ressourcen zur Beteiligung auf …

Paul: Da haben Sie leider Recht. Deswegen geht es um die Frage, wie Beteiligung zu den Menschen kommt – etwa durch Stadtteilkonferenzen oder Quartierswerkstätten. Wenn sich Politik auf Augenhöhe mit den Bürgerinnen und Bürgern begibt, wenn sie deutlich macht, dass das Ziel ist, Gesellschaft gemeinsam zu gestalten, dann gelingt Beteiligung. Das ist auch in Nachbarländern zu beobachten: Wien hat sehr gute Erfahrungen bei der Stadtteilentwicklung durch partizipative Prozesse gerade durch die Beteiligung von Menschen gemacht, die als politikfern gelten.

Ein anderes Thema: Sie wollen Meldestellen für Rassismus und Queerfeindlichkeit einrichten – das, so kritisieren manche, fördere Denunziantentum. Wie groß ist das Problem?

Paul: Wir fördern kein Denunziantentum! Dieser Punkt ist mir sehr wichtig. Wie groß das Problem von Diskriminierung bei uns ist, dafür gibt der gerade veröffentlichte Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wichtige Hinweise. Dieser zeigt deutlich, dass Diskriminierung für viele Menschen in diesem Land leider eine alltägliche Erfahrung ist. Um dagegen vorzugehen, aber auch, um den Betroffenen Unterstützung anbieten zu können, brauchen wir eine gute Grundlage. Wir brauchen Wissen darüber, wie Menschen etwa antisemitisch oder rassistisch diskriminiert werden – deshalb bauen wir Recherche- und Informationsstellen auf, die eine Datengrundlage zur Erhellung des Dunkelfeldes schaffen. Dadurch erhoffen wir uns Hinweise, wie und wo wir künftig durch Prävention, Sensibilisierung und Intervention die Lage für die Betroffenen verbessern können.

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Was sind das für Daten?Paul: Es dürfen keine personenbezogenen Daten erhoben werden – deshalb geht es auch nicht um Denunziation. Personenbezogene Anzeigen können weiterhin ausschließlich an die Polizei gerichtet werden. Es geht uns vielmehr um die Möglichkeit, Vorfälle von Diskriminierung sichtbar machen zu können. Für uns steht im Vordergrund, dass wir die Betroffenen damit nicht alleine lassen wollen. Diskriminierung ist auch ein Problem, dass den sozialen Zusammenhalt betrifft, und deshalb ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dem zu begegnen. Das können wir aber nur, wenn es für die Betroffenen die Möglichkeit gibt, von ihren Erfahrungen zu berichten. Daran anschließend, können sie etwa Beratungsstellen aufsuchen, und vielleicht bringen sie auch den Mut auf, in Fällen von strafrechtlicher Relevanz Anzeige zu erstatten.

Sie wollen ein Antidiskriminierungsgesetz schaffen. Was soll es leisten, und lässt sich das Problem überhaupt gesetzlich regeln?Paul: Rahmensetzung ist wichtig. Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie vor Diskriminierung wirkungsvoll geschützt werden. Wir haben auf Bundesebene das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das vor allem den privat- und arbeitsrechtlichen, aber nicht den öffentlich-rechtlichen Bereich umfasst. Wir wissen, dass es Schutzlücken gibt – diese landesseitig zu schließen, haben wir im Koalitionsvertrag beschlossen. Zum Beispiel da, wo Menschen mit der Verwaltung in Kontakt treten. Schule, öffentliche Verwaltung, Polizei: Diese Bereiche sind bisher nicht durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz erfasst.

Arbeit muss mit Familie vereinbar sein, nicht nur Familie mit Arbeit

Was die Gleichbehandlung von Männern und Frauen und die Rollenverteilung in der Familie betrifft, etwa im Hinblick auf die Elternzeit, gibt es zahlreiche strukturelle Probleme. Was kann das Land ausrichten?

Paul: Wir wollen Familien in ihrer Vielfalt unterstützen, und natürlich wollen wir unterstützen, dass gleichermaßen für Männer und Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Alltag besser umsetzbar und erstrebenswert ist. An diesem Punkt teilt sich oft die Lebenserfahrung von Frauen und Männern. Nicht, weil Männer sich dagegen wehrten, ihre vermeintlich traditionelle Rolle zu verlassen, sondern, weil die gesellschaftlichen Umstände nicht stimmen. Hier ist nicht allein die soziale Infrastruktur wichtig – wir brauchen auch die Rückkoppelung mit den Arbeitgebern. Arbeit muss mit der Familie vereinbar sein, nicht nur Familie mit der Arbeit. Als Land haben wir an diesem Punkt zwar keine Regelungskompetenz, aber wir können dafür werben und im Rahmen der Landesverwaltung mit gutem Beispiel vorangehen.

Was hat sich eigentlich das Kind Josefine Paul von der Politik gewünscht?

Paul: Ich glaube, es ging mir, wie es vielen Kindern heute auch ergeht: Mich hat gestört, dass nicht gefragt war, was ich dachte, was ich gerne hätte, wie Kinder sich manche Dinge vorstellen. Dass sich daran in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel geändert hat, ärgert wiederum die erwachsene Josefine Paul. Ich setze mich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche gehört und einbezogen werden.