Köln – Die russischen Truppen haben am Tag sieben des Überfalls auf die Ukraine ihre Offensive mit zunehmender Härte fortgesetzt. Aus verschiedenen Städten des Landes wurden erneut heftige Gefechte und Explosionen gemeldet. In Charkiw, der mit 1,4 Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt der Ukraine, haben nach Angaben der ukrainischen Armee russische Fallschirmjäger ein militärmedizinisches Zentrum unter Beschuss genommen. Auch eine Armeeakademie sei bombardiert worden, gab der Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Heraschtschenko, bekannt. Es gebe „praktisch kein Gebiet mehr in Charkiw, in dem noch keine Artilleriegranate eingeschlagen ist“, erklärte er.
Auch in anderen Landesteilen kam es teils zu massiven Angriffen. Bei einem Angriff mit mehreren Marschflugkörpern in Schytomyr, rund 140 Kilometer westlich von Kiew, wurden zwei Menschen getötet und verletzt. Der Beschuss galt angeblich der 95. Brigade der ukrainischen Armee. Mindestens eine Rakete schlug in einem Wohnhaus ein. Der befürchtete Großangriff der russischen Streitkräfte auf Kiew, die sich vor den Toren der Hauptstadt zusammengezogen haben, blieb aber bislang aus.
Stadt mit Molotow-Cocktails verteidigt
In Cherson sollen russische Einheiten nach heftigen Kämpfen den Flughafen und den Bahnhof erobert haben. Das russische Verteidigungsministerium verkündete sogar, die Stadt vollständig eingenommen zu haben. Die Bewohner sollen sich verzweifelt gegen die Angreifer zur Wehr gesetzt haben. Heraschtschenko sprach von zahlreichen Zivilisten, die getötet wurden, während sie die Stadt unter anderem mit Molotow-Cocktails verteidigt hätten. Es wäre die erste ukrainische Gebietshauptstadt, die russische Truppen unter ihre Kontrolle bringen.
Auch Trostianets im Nordosten soll inzwischen in russischer Hand sein. Zudem teilte die Internationale Atomenergiebehörde in Wien mit, dass russische Truppen nach eigenen Angaben das größte Atomkraftwerk in der Ukraine eingenommen hätten. Der Betrieb des AKW Saporischschja sei gesichert, habe die russische Botschaft verlauten lassen. In Konotop haben russische Soldaten den Behörden angeblich ein Ultimatum gestellt. Sollte sich die Bevölkerung gegen einen Einmarsch wehren, müsse sie mit schwerem Artilleriefeuer rechnen, sagte das Stadtoberhaupt. „Ich bin für kämpfen“, habe er den Feind wissen lassen.
Nach Informationen der UN kamen in der Ukraine seit Beginn der Invasion am vergangenen Donnerstag 136 Zivilisten ums Leben, darunter 13 Kinder. Das russische Verteidigungsministerium sprach am Mittwoch von 498 getötete russische Soldaten und 1597 verletzten. Das sind die ersten offiziellen Zahlen aus Russland seit Kriegsbeginn. In einer Videobotschaft appellierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj abermals an die russischen Einheiten, die Waffen niederzulegen.
„6000 Russen wurden getötet. Für was? Um die Ukraine zu bekommen? Das ist unmöglich“, sagte er und lobte zugleich den Widerstand der Bevölkerung. Der Präsident forderte mehr internationale Unterstützung für sein Land. Die Antwort des Westens reiche nicht aus.
Waffen aus Deutschland an Armee übergeben
Unterdessen ist die deutsche Waffenlieferung im Kriegsgebiet eingetroffen; die 500 Flugabwehrraketen des Typs „Stinger“ und 1000 Panzerfäuste aus den Beständen der Bundeswehr seien an die ukrainische Armee übergeben worden, hieß es aus Berliner Regierungskreisen.
Weiterhin unklar ist, wie lange Soldaten und bewaffnete Zivilisten die Hauptstadt Kiew werden halten können. Die russische Armee hat einen Belagerungsring um die Stadt gezogen. Unterschiedlichen Medienberichten zufolge werden Lebensmittel und Medikamente allmählich knapp. Mehr als 15.000 Menschen haben laut dem Chef der Metro Zuflucht in den U-Bahn-Tunneln gesucht, die bis zu 60 Meter unter der Erde liegen. Insgesamt können hier angeblich bis zu 100.000 Menschen Unterschlupf finden.
Selenskyj angeblich Ziel eines Attentatversuchs
Am Dienstag war in Kiew der Fernsehturm bombardiert worden, auch in der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar schlug eine Rakete ein. „Dieser Angriff zeigt, dass für viele Menschen in Russland unser Kiew absolut fremd ist“, sagte Selenskyj in seiner Videobotschaft. „Sie wissen gar nichts über Kiew, über unsere Geschichte. Aber sie alle haben den Befehl, unsere Geschichte, unser Land, uns alle auszulöschen.“
Vor allem die Angst vor russischen Saboteuren und für ihre Brutalität bekannte Spezialkommandos ist nach wie vor groß. Laut ukrainischen Sicherheitsbehörden ist Selenskyj in der Nacht auf Mittwoch nur knapp einem Attentat durch tschetschenische Elite-Soldaten entgangen. Die Angreifer seien „eliminiert“ worden, hieß es. Wie nah die Kämpfer Selenskyj bei dem Angriff kamen, blieb unklar. Der Präsident, der sich in einem Luftschutzbunker in Kiew aufhalten soll, sei aber wohlauf. Angeblich sei Selenskyjs Umfeld rechtzeitig gewarnt worden. Der entscheidende Tipp soll von regierungskritischen Mitarbeitern des russischen Inlandsgeheimdienst FSB gekommen sein.
"Times": Russische Söldner in Ukraine eingereist
Nicht nur der Todesschwadron des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow bereitet dem ukrainischen Sicherheitsapparat Sorgen. Unbestätigten Berichten zufolge soll Russlands Präsident Wladimir Putin auch die berüchtigte private Söldner-Einheit „Gruppe Wagner“ in die Ukraine geschickt haben, um Jagd auf Selenskyj und andere hochrangige Regierungsmitglieder zu machen. Wie die Londoner „Times“ berichtet, sollen die rund 400 Söldner schon im Januar über Afrika nach Belarus geflogen und von dort auf dem Landweg illegal in die Ukraine eingedrungen sein.
Die ukrainische Zeitung Pravda berichtet unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse, dass Putin Selenskyj schnellstmöglich entmachten und den 2014 bei der Maidan-Revolution gestürzten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch als Staatsoberhaupt installieren will. Janukowitsch soll sich derzeit in der belarussischen Hauptstadt Minsk aufhalten.
Viele Russen zweifeln am Sinn des Krieges
Allerdings gerät auch Putin immer weiter unter Druck. Immer mehr Menschen in Russland machen ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Kriegs in der Ukraine öffentlich. Die internationalen Sanktionen machen dem Land zu schaffen. Als Reaktion hat Putin nun ein Dekret unterzeichnet, das Russen verbietet, das Land mit mehr als 10.000 Dollar in Fremdwährung zu verlassen.
Auch um die Moral von Putins Truppen soll es nicht gut bestellt sein. Der Vormarsch verläuft Beobachtern zufolge weiterhin teilweise zögerlich. Es ist von Konvois zu hören, die immer wieder ins Stocken geraten, bei der Logistik soll es schwerwiegende Probleme geben. Im Internet kursieren Bilder von völlig intakten Panzern, die am Straßenrand zurückgelassen worden seien, weil ihnen mutmaßlich das Benzin ausgegangen ist. Die dazu gehörigen Soldaten haben sich angeblich zu Fuß auf den Weg zurück in die Heimat gemacht. Die Echtheit der Aufnahmen und Angaben kann allerdings nicht verifiziert werden.
Unterdessen haben sich laut einer Umfrage der „Rating-Gruppe“ 86 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer für einen Beitritt des Landes in die Europäische Union ausgesprochen. Immerhin 76 Prozent der Befragten würden eine Mitgliedschaft in der Nato begrüßen.
Dass Putin doch noch von seinen Plänen abrücken könnte, die gesamte Ukraine einzunehmen, gilt weiterhin als höchst unwahrscheinlich. Aber die beiden Kriegsparteien kehren an den Verhandlungstisch zurück. Kiew sei bereit zu verhandeln, werde sich aber nicht von „russischen Ultimaten“ unter Druck setzen lassen, hatte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba im Laufe des Tages gesagt. Nun hat die Ukraine neuen Verhandlungen mit Russland über einen Waffenstillstand zugestimmt. Sie sollen noch am Abend stattfinden. Das berichtet die Nachrichtenagentur Unian unter Berufung auf den ukrainischen Delegationsleiter Arachamija. Zuvor hatte die Agentur Belta gemeldet, die russischen Unterhändler seien bereits zum Verhandlungsort aufgebrochen.
An Russlands Forderungen hat sich indes nichts geändert. Die hatte Putin unmissverständlich formuliert: Eine vollständige Entmilitarisierung und eine neue Regierung von seinen Gnaden.