AboAbonnieren

Immer auf der HutInderin über sexuelle Gewalt – „Als Frau wirst du zwangsläufig belästigt“

Lesezeit 7 Minuten
Nach der Vergewaltigung und Ermordung einer angehenden Ärztin in Kolkata protestieren Inder gegen Gewalt an Frauen.

Nach der Vergewaltigung und Ermordung einer angehenden Ärztin in Kolkata protestieren Inder gegen Gewalt an Frauen.

Gleichberechtigung gilt für Frauen in Indien nur auf dem Papier. Tatsächlich werden sexuelle Übergriffe immer noch verharmlost.

Wenn Naina von der indischen Hauptstadt Neu-Delhi aus über Land reist, trifft sie eine ganze Reihe von Vorsichtsmaßnahmen. „Ich informiere meine Familie und meine Freunde“, sagt die 29-Jährige. „Ich mache Fotos vom Auto, das ich nehme. Ich öffne den Kofferraum und überprüfe ihn. Ich gebe die Telefonnummer des Fahrers weiter, das Nummernschild, den Führerschein des Fahrers, alles.“

Naina ist kein Sonderfall. Für Millionen Inderinnen gehören aufwendige Schritte zum Alltag, um nicht zum Opfer von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt zu werden.

Indien: Millionen Frauen müssen sich vor sexueller Gewalt schützen

Naina sagt, wenn sie in einem Einkaufszentrum shoppen sei, müsse sie damit rechnen, von Männern angestarrt oder gar angefasst zu werden. „Manchmal probieren sie sogar, in deine Umkleidekabine zu kommen.“ Nach 22 Uhr versuche sie, nicht mehr allein auf der Straße zu laufen – und wenn, dann trage sie trotz der Hitze eine Jacke, um ja keinen Flecken Haut zu zeigen. Selbst in der wohlhabenden Gegend in Neu-Delhi, in der sie wohnt, müsse sie ansonsten Angst vor sexuellen Übergriffen haben.

„Es geht darum, dass man als Frau immer auf der Hut ist“, sagt Naina, die in Wirklichkeit anders heißt, bei dem heiklen Thema aber nicht mit ihrem Namen zitiert werden möchte. „Egal, wie alt du bist, als Frau wirst du zwangsläufig belästigt.“ Niemals dürfe man etwa in einem Taxi einschlafen, egal, wie müde man sei – ansonsten riskiere man, vergewaltigt zu werden. „Man weiß nicht, ob man am Ende im Straßengraben endet.“

Männer haben in einem Land wie Indien das Gefühl, dass ihre Handlungen keine Konsequenzen haben, weil ihnen alles vergeben wird.
Naina, Inderin

Wenn Frauen sich gegen sexuelle Übergriffe wehrten, „dann wird man als Nutte, als Schlampe beschimpft“, kritisiert Naina. „Männer haben in einem Land wie Indien das Gefühl, dass ihre Handlungen keine Konsequenzen haben, weil ihnen alles vergeben wird. Frauen dagegen sind immer nervös, immer verängstigt.“

Indien gerät wegen sexueller Gewalt international immer wieder in die Schlagzeilen. Zuletzt führte die mutmaßliche Vergewaltigung und Ermordung einer angehenden Ärztin in ihrem Krankenhaus in der ostindischen Metropole Kolkata zu einer Welle von Protesten, am vergangenen Wochenende legten Medizinerinnen und Mediziner im ganzen Land für 24 Stunden ihre Arbeit nieder.

Premierminister Narendra Modi sagte: „Als Gesellschaft müssen wir ernsthaft über die Gräueltaten an unseren Müttern, Schwestern und Töchtern nachdenken. Unter den Menschen herrscht deswegen Wut. Ich kann diese Wut spüren.“ Der Regierungschef sprach von „teuflischen Taten“, die mit dem Tode bestraft werden müssten.

Auch die Todesstrafe hat in der Vergangenheit allerdings nicht dazu geführt, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen in Indien gestoppt wird. Im Jahr 2012 sorgte der Fall einer 23-Jährigen, die in Neu-Delhi in einem fahrenden Bus von sechs Männern vergewaltigt wurde und danach an ihren schweren Verletzungen starb, weit über die Landesgrenzen hinaus für Entsetzen. Die Vergewaltigung war so brutal und bestialisch, dass indische Medien damals unter Berufung auf Polizeiquellen berichteten, für die Ermittler sei es schon „psychologisch verheerend“ gewesen, die Wunden des Opfers nur zu protokollieren. Im März 2020 wurden vier der Täter gehängt.

Internationales Aufsehen erregen auch immer wieder Angriffe auf ausländische Besucherinnen. 2022 wurde eine britische Touristin in der Urlauberhochburg Goa im Südwesten Indiens vor den Augen ihres Partners vergewaltigt. Im März dieses Jahres wurde eine 28 Jahre alte spanisch-brasilianische Touristin im östlichen Bundesstaat Jharkhand Opfer einer Gruppenvergewaltigung.

„Ausländer, insbesondere allein oder in kleinen Gruppen reisende Frauen, sind vereinzelt von gewaltsamen, auch sexuellen Übergriffen betroffen, auch in Touristenzentren“, heißt es in den Reisehinweisen des Auswärtigen Amtes zu Indien. Das britische Außenministerium schreibt: „Weibliche Reisende werden häufig von einzelnen Männern oder Gruppen von Männern verbal und körperlich belästigt.“ Auch die Mahnung des kanadischen Außenministeriums klingt wenig einladend: „Verbrechen gegen Frauen kommen in Indien häufig vor“, ist dort zu lesen. „Berichte über Vergewaltigungen und Übergriffe auf ausländische Frauen haben zugenommen.“

Dass sexuelle Übergriffe in Teilen der indischen Bevölkerung noch immer als lässliches Vergehen angesehen wird, zeigt sich am Sprachgebrauch: Sexuelle Belästigung von Frauen auf öffentlichen Plätzen wird verharmlosend als „Eve teasing“ bezeichnet, auf Deutsch: „Eva necken“. „Der Begriff bezieht sich auf die Rolle Evas beim biblischen Sündenfall und impliziert damit, dass das Opfer für die Belästigung verantwortlich ist“, heißt es beim Collins Dictionary. „Daher ist dieser Begriff höchst beleidigend, vor allem für die Opfer.“

Es reiche nicht aus, Proteste und Mahnwachen abzuhalten, schreibt die Journalistin Anamni Gupta angesichts des Todes der angehenden Ärztin in Kolkata. Auch die Androhung von schweren Strafen werde das Problem nicht aus der Welt schaffen. „Ein Mann wird eine Frau nicht allein aus Angst vor Strafe als gleichwertig behandeln.“ Gupta fordert ein Umdenken in der Gesellschaft. „Da kein Mensch als Vergewaltiger geboren wird, ist es Aufgabe der Familien und der Gesellschaft insgesamt, einem Kind (männlich oder weiblich) schon früh die Begriffe Gleichberechtigung, Wahlmöglichkeit und Zustimmung nahezubringen.“

Bereits im Jahr 2018 wurde Indien in einer Umfrage der Thomson Reuters Foundation unter globalen Experten als gefährlichstes Land der Welt für Frauen genannt – vor Afghanistan und Syrien. Bei einer ähnlichen Umfrage sieben Jahre zuvor hatte Indien noch auf Rang vier gelegen. Die indische Regierung wies die Darstellung 2018 empört zurück und sprach von einer fehlerhaften Methodik, die einen solchen Schluss überhaupt nicht zulasse.

Wo Indien im Ranking der unsicheren Länder steht, mag eine solche Expertenumfrage nicht belegen können. Dass Frauen in Indien jedenfalls nicht sicher sind, belegen die offiziellen Statistiken. Nach den jüngsten Daten des Nationalen Strafregister-Büros (NCRB) wurden in dem Land im Jahr 2022 mehr als 31.500 Vergewaltigungen registriert – im Schnitt mehr als 86 pro Tag. Das ist etwas weniger als 2021, verglichen mit 2020 aber ein Anstieg von über 11 Prozent.

Mehr als 85 Prozent der Fälle werden nicht gemeldet, weil die Opfer Angst vor Repressalien haben.
Supreet K. Singh, Frauenrechtlerin, Mitgründerin und Geschäftsführerin der Red Dot Foundation

Und die Zahlen zeigen nur die Spitze des Eisbergs. „Die Regierung verfügt nicht über die korrekten Daten, da mehr als 85 Prozent der Fälle nicht gemeldet werden, weil die Opfer Angst vor Repressalien haben, ein Stigma vorherrscht und das Vertrauen in die polizeilichen Ermittlungen fehlt“, sagt die Frauenrechtlerin Supreet K. Singh. Sie ist Mitgründerin und Geschäftsführerin der Red Dot Foundation. Die gemeinnützige Organisation setzt sich nach eigener Darstellung dafür ein, öffentliche und private Räume sicherer für alle zu machen, insbesondere für Frauen und Mädchen.

Ein Werkzeug dafür ist die App Safecity, in der sexuelle Übergriffe anonym gemeldet werden können. Auf einer Weltkarte sind die Fälle mit roten Punkten verzeichnet, wer sie anklickt, bekommt Details genannt und kann dann beispielsweise bestimmte Gegenden meiden. Indien ist voller roter Punkte.

Singh sagt, sie sei in ihrem früheren Berufsleben von ihrem Vorgesetzten sexuell belästigt worden. Als sie sich in ihrem Umfeld umgehört habe, hätten alle Frauen zu erkennen gegeben, dass sie Belästigungen erfahren hätten. „Außer mir hatte das niemand öffentlich gemacht.“ Daten seien aber notwendig, um Muster sexueller Gewalt zu verstehen und politische Reformen herbeizuführen.

Singh sieht viele Gründe darin, dass sexuelle Gewalt in Indien ein so großes Problem ist. Etwa die patriarchalische Gesellschaft in Indien, die Männern mehr Bedeutung als Frauen beimisst. Außerdem gebe es zwar gute Gesetze, es hapere aber an deren Umsetzung. „Die Beschuldigten werden oft von der Polizei, von Politikern oder von Anwälten beschützt.“ Die Verurteilungsquote bei angezeigten Vergewaltigungsfällen liege nur bei 27,8 Prozent. „Das heißt, von 100 Angeklagten werden nicht einmal 28 verurteilt.“

Die Frauenrechtlerin Kavita Krishnan macht noch ein anderes Problem aus: Das Kastensystem in Indien, das Bevölkerungsgruppen in eine strenge soziale Hierarchie zwingt. „In einigen der schlimmsten Fälle von Gruppenvergewaltigungen hat das Kastensystem eine Rolle gespielt“, sagt sie. Männer aus höheren Kasten vergingen sich beispielsweise an Dalits, sogenannten Unberührbaren, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auch Singh beklagt, Vergewaltigungen, bei denen die Täter aus höheren Kasten stammten, kämen oft gar nicht erst zur Anzeige.

Nicht nur das Kastensystem zementiert soziale Unterschiede, das gilt auch für die Geschlechterrollen in Indien. „In Indien haben Frauen nicht dieselbe Position wie Männer. Wir sind weit davon entfernt, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte haben“, sagt Singh. „Es wird erwartet, dass Frauen sich unterordnen und zu Hause bleiben. Manche Familien nehmen ihre Töchter aus der Schule, wenn sie in die Pubertät kommen, damit sie nicht sexuell belästigt werden.“

Naina aus Neu-Delhi erinnert sich bis heute an das erste Mal, als sie sexuell belästigt wurde, damals war sie ein Kind „Wir waren vier Mädchen auf einer Fahrradrikscha und kamen gerade von der Schule zurück, da kam ein Bettler und drückte seine Hände auf meine Brust“, sagt sie. „Ich hatte damals gar keinen Busen, ich war ein kleines Mädchen und noch nicht einmal in der Pubertät.“ Vergessen werde sie das Trauma nie. „Es ist immer präsent. Und es gibt keine Therapie dagegen.“