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„Der gefährlichste Ort der Welt“Kaliningrad ist laut Kreml-Propaganda das Schlachtfeld von morgen

Lesezeit 7 Minuten
15.07.2022, Russland, Kaliningrad: Schiffe ankern in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad, der Stadt, die früher Königsberg hieß. (zu «Ostsee-Exklave Kaliningrad beklagt weiter Sanktionsdruck - und droht») Foto: Ulf Mauder/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Kaliningrad: Schiffe ankern in der russischen Ostsee-Exklave (Archivbild).

Russland behauptet den Einwohnern gegenüber, in der russischen Exklave Kaliningrad finde demnächst der Krieg gegen den Westen statt.

Mit einer Fläche von 15.000 Quadratkilometern etwas kleiner als Thüringen, bewohnt aber von nur einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern, bildet die russische Oblast Kaliningrad umringt von den EU-Staaten Litauen und Polen derzeit die „heißeste“ Nahtstelle im Konflikt der Blöcke. Denn hier, zwischen dem polnischen Grzechotki und dem russischen Mamonowo, stehen sich die Nato und Russland direkt gegenüber.

Die Exklave ist das historische Erbe der vom sowjetischen Diktator Stalin angeordneten Staatenverschiebung als Folge des Zweiten Weltkriegs. Der nördliche Teil des ehemals deutschen Ostpreußens mit der Gebietshauptstadt Königsberg wurde als Folge der Konferenz von Potsdam damals der Sowjetunion und namentlich der russischen Teilrepublik zugeschlagen, der südliche Teil wurde polnisch. Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Baltenrepubliken trennen das Gebiet Kaliningrad heute gut 400 Kilometer litauisches und lettisches Gebiet von Russland.

Ein gewaltiges Aufmarschgebiet

Christian Neef, Journalist und ehemaliger Moskau-Korrespondent des „Spiegel“, hat jüngst das seit Kriegsbeginn de facto von der Außenwelt abgeschnittene Gebiet bereist. Zu Sowjetzeiten war es Sperrgebiet, denn in Baltijsk, dem ehemaligen Pillau, war die Baltische Flotte stationiert – ohnehin glich die gesamte Oblast einem gewaltigen Aufmarschgebiet. Der zunächst zaghaften Öffnung in den 90er Jahren – man träumte von einem „osteuropäischen Honkong“, von der Brücke zwischen Ost und West, von westlichen Touristenströmen – folgte Ernüchterung.

„Es gab und es gibt kein Konzept für dieses Gebiet, mal abgesehen von der militärischen Nutzung“, so Neef gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Doch war Kaliningrad bis vor kurzem in Russland populär, es galt als ruhig, idyllisch, meernah und irgendwie europäisch, weswegen zum Beispiel Studenten sogar aus dem Ural oder aus Sibirien gern hier studierten. Heute hat man Angst, wegen der Lage zwischen den Nato-Staaten Polen, Litauen und Lettland zum nächsten Schlachtfeld zu werden“, beschreibt Neef seine Eindrücke. Studenten kommen seit Kriegsbeginn immer weniger nach Kaliningrad.

Tatsächlich glaubten einst viele Kaliningrader an eine europäische, gar eine deutsche Zukunft ihrer Stadt. Es waren die 90er-Jahre, alles schien möglich. Sogar, dass der damalige Präsident Boris Jelzin die Exklave an Deutschland verhökert. Und nach dem Zerfall der Sowjetunion verursachte die nunmehr vom Mutterland getrennte Exklave vor allem Kosten.

1895: In sieben Stunden von Berlin nach Königsberg

Damals gewann der Hafen an Bedeutung. Die neu gebaute Autofabrik Avtotor, in der Fahrzeuge für BMW, GM und Kia mit aus Europa importierten Teilen montiert wurden, wurde als Start in eine neue Boom-Ära als „Sonderwirtschaftszone“ gefeiert. Unter geradezu traumhaften Bedingungen: So weit wie hier ragte die Sowjetunion sonst nirgendwo in Richtung Westen. Nur 527 Kilometer beträgt die Distanz zwischen Berlin und Kaliningrad. Bereits 1895 benötigte der Schnellzug D1/2, der am Vormittag in Berlin startete, nur sieben Stunden bis Königsberg.

Heute zieht Neef, der als Journalist diese Entwicklung in den letzten 30 Jahren wie kein Zweiter begleitet hat, eine vernichtende Bilanz: „Das Autowerk war nach Kriegsbeginn so gut wie pleite, bevor es nun die Chinesen übernahmen. Ich habe Abstellplätze voller Autos gesehen, die wegen fehlender Ersatzteile nicht zu Ende gebaut werden können“. Laut Neef „trifft der Einbruch der Wirtschaft die Oblast Kaliningrad viel drastischer als den Rest des Landes. Die Hafenwirtschaft liegt komplett darnieder, der Fernlastverkehr nach Russland ist wegen Sperrung der Transitrouten fast zusammengebrochen..“

Grafik-Karte Nr. 104341, Querformat 110 x 85 mm, "Verortung: Exklave Kaliningrad/Litauen/Russland"; Grafik: A. Brühl, Redaktion: J. Schneider

Die russische Exklave Kaliningrad

Doch auch in den vielen Friedensjahren davor hat sich in der Exklave, eingeklemmt zwischen dem polnischem Frischen Haff und dem bis Litauen ragenden Kurischen Haff, nicht viel getan. „Russland hat hier wirtschaftlich nichts entwickelt, die Landwirtschaft liegt brach. Überhaupt, die ganze Stadt Kaliningrad ist total verplant“, so Neef.

Symbolisch steht dafür noch immer das Haus der Sowjets, eine gigantische Bauruine im Herzen der Stadt. Dieses Betonmonster wurde in den 70er Jahren erbaut, aber nie fertiggestellt, auch, weil es im weichen Boden abzusacken drohte. Im Volksmund wird es als „Rache der Preußen“ bezeichnet. Die meisten Menschen wohnen in zerfallenden Plattenbausiedlungen aus Sowjetzeiten.

Die Träume von Europa sind längst begraben

Auch die Menschen hier haben längst ihre Träume von Europa, von einem Gebiet als Brücke zwischen den Blöcken begraben. „Sie sehen sich nichts als Bewohner einer Exklave zwischen den Blöcken, mal ausgenommen einige Intellektuelle, die seit jeher enge Beziehungen zu Westeuropa und vor allem Deutschland pflegten“, so Neef. „Man sieht im Alltag viele Uniformträger der Baltischen Flotte und auch Patrouillen der Nationalgarde, aber Propaganda-Tafeln, die den Krieg verherrlichen oder um Freiwillige werben sind hier seltener verbreitet als in anderen Teilen Russlands“, ist Neef überzeugt.

Dafür haben die knapp eine Million Einwohnerinnen und Einwohner der Oblast einen enormen Preis für den Krieg bezahlt: Das 11. Armeekorps, das eigentlich zur Verteidigung der Exklave gedacht und erst vor wenigen Jahren aufgestellt worden war, wurde gleich nach Kriegsbeginn an die Front in der Ukraine beordert.

Kaliningrad zahlte einen hohen Blutzoll

Die etwa 12.000 Mann – zwei motorisierte Schützenregimenter und ein Panzerregiment, eine Artilleriebrigade und ein Aufklärungsbataillon – gerieten bei Charkiw in schwere Kämpfe. Bereits nach drei Monaten hatte das Korps ein Viertel seiner Stärke verloren, fand das US-amerikanische Institute for the Study of War heraus.

Bekannt wurde eine Gruppe Kaliningrader Soldaten, als sie sich im Herbst via Video an den Gouverneur und das Verteidigungsministerium wandten: Sie würden ohne Ausbildung an der Front bei Donezk verheizt, dabei seien sie doch eigentlich für die Verteidigung der Heimat da. Einige sollen sich sogar von der Front abgesetzt haben – mitsamt ihren Waffen.

Laut Neef werden derzeit aber kaum noch Männer in Kaliningrad zum Kriegsdienst einberufen. Die Menschen glauben, es liege daran, weil sie künftig in der Exklave gebraucht werden – falls diese verteidigt werden muss. Die Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ lieferte erst jüngst die Schlagzeile dazu: „Der Krieg mit der Nato beginnt mit einer Attacke auf das Kaliningrader Gebiet“.

Für viele Menschen in Kaliningrad mag das plausibel klingen: Hat die Nato nicht zunächst Russland „eingekreist“, dann die Ukraine „infiltriert“, so wie die Kremlpropaganda unermüdlich wiederholt?

Für viele der von seriösen Informationen abgeschnittenen Bewohnerinnen und Bewohner einer Exklave, etwa so groß wie Thüringen und eingeklemmt zwischen zwei Nato-Staaten, muss sich hier ein Kreis schließen. Zumal „die Preußen“, in Gestalt der Bundeswehr mit über 700 Soldaten, als Teil einer multinationalen Nato-Brigade jenseits des Grenzflusses Memel im litauischen Rukla offensichtlich auf „Rückkehr“ lauern.

Baltische Staaten kaum verteidigungsbereit

Dass die Nato „lauert“, ist natürlich falsch, aber wen interessiert das schon im „postfaktischen Zeitalter“. Mit lediglich 17.000 Soldaten könnte Litauen (ebenso wie Lettland mit 6000 und Estland mit 3300 aktiven Soldaten) einem Angriff aus Russland keine 24 Stunden standhalten – nur deshalb sind dort seit der Aggression von 2022 Nato-Streitkräfte stationiert.

Doch auch im Nato-Hauptquartier in Brüssel bereitet die Oblast Kaliningrad den Strategen Kopfzerbrechen: Schuld daran ist die „Suwalki-Gap“, eine nur 65 Kilometer breite Landbrücke zwischen der russischen Exklave und Belarus, die kaum zu verteidigende einzige Landverbindung zwischen den baltischen Staaten und den übrigen Nato-Partnern.

Der gefährlichste Ort der Welt

Das Magazin „Politico“ bezeichnete die Region als „gefährlichsten Ort der Welt“. Auch für den Militärexperten und ehemaligen Nato-General Hans-Lothar Domröse ist es „der neuralgischste Punkt des gesamten Bündnisses“, wie er im Gespräch mit dem RND betont.

„Wobei die Bezeichnung ‚Lücke‘ irreführend ist, Korridor wäre richtiger. Eine Lücke muss geschlossen werden, ein Korridor offen gehalten. Und diese Landverbindung zum Baltikum muss im Verteidigungsfall offen gehalten werden“, so Domröse.

Die Situation rund um Kaliningrad und die drei baltischen Staaten bezeichnet er als kompliziert. „In der strategischen Nato-Planung hat das Offenhalten der Landverbindung ins Baltikum eine große Bedeutung. Deshalb werden dort auch Truppen stationiert. Nato und Russland haben gleichermaßen das Problem, dass es im Kriegsfall wegen der geringen Größe der betroffenen Gebiete keine strategische Tiefe gibt, Länder also schnell vom Feind besetzt werden könnten. Entsprechend groß wäre der Aufwand, falls diese unbedingt gehalten werden sollen – das muss gut überlegt sein“, so Domröse.

Abriss am Haus der Sowjets

Getan hat sich in diesem Sommer in Kaliningrad doch etwas: Über 50 Jahre nach Baubeginn haben endlich die Abrissarbeiten am zerfallenden Haus der Sowjets, dem Symbol des Stillstands, begonnen. 14 Monate sind dafür veranschlagt. Pläne für die frei werdende Fläche gibt es noch nicht, räumt Anton Alichanow ein, der Gouverneur der Oblast. Aber das ist ja nicht ungewöhnlich, in Kaliningrad …