Kinder in Angst„Papa, kann ich nicht aufwachen, und morgen ist der Krieg vorbei?“
- In der Ukraine sitzen die Menschen in Luftschutzbunker und fürchten um ihr Leben. Hier geht der Alltag weiter – trotzdem müssen auch wir mit unseren Sorgen und Ängsten umgehen – und den Fragen unserer Kinder.
- Schon Corona hatte den Tod zurück ins Bewusstsein geholt. Jetzt ist es der Krieg.
- Ein Essay.
Köln – Mit der Familie in Coronaquarantäne, draußen Sonne, kein Schnupfen, kein Fieber, nur Weltuntergangssymptome. Himmel blau, braune Tonnen vor der Tür. Wie ließe Putin sich entsorgen? „Könnte man ihn nicht irgendwie umbringen?“, fragt meine 13-jährige Tochter, die eigentlich nicht besonders pragmatisch ist. „Das ist zwar unmenschlich, aber er ist es doch auch.“
Der Nachbar geht mit seiner kleinen Tochter an der Hand spazieren, an der Mülltonne ist ein Plausch über die verrückten Benzinpreise zu hören. Auf Twitter Bilder von Menschen in der Metro von Kiew und in den Kellern von Charkiw, brennender Fernsehturm, verkohlte Leichen, Ukrainer, die sich vor Panzer legen und Molotowcocktails bauen, 5641 Likes, mehr als 5000 tote Russen, melden ukrainische Journalisten, mehr als 10 000 Likes, Models halten Kalaschnikows, die Klitschkos sind so stark wie Rocky und Terminator, sie könnten es schaffen.
Eine Timeline voller Angst und Helden
Das Netz ist voller Angst und Helden, Verzweiflung und Kriegsrausch, jede Sanktion und Waffenlieferung erhält Tausende Herzchen, nice, nice, Iike,like.
Mittagspause, das Hack brennt an, zwinge mich, das Handy wegzulegen, Paprika und Zwiebeln schneiden, beruhige meine siebenjährige Tochter, dass der Krieg nicht nach Deutschland kommen werde, die Elfjährige versetzt: „Papa, gib es zu, es kann sein, Du weißt es nicht.“ - Weißt Du es jetzt, oder nicht?“, fragt die Siebenjährige. Nicht ganz genau, aber ziemlich ganz sicher nicht. „Keiner weiß es“, sagt die Elfjährige.
Kinder auf dem Schulhof spielen Krieg
Auf dem Schulhof spielen die Jungs Krieg. Kinder mit russischen Eltern sagen, Putin wolle Frieden, das laufe jeden Tag im Fernsehen. „Stimmt das?“, fragt die Mittlere. Von der Angst der Kinder ist jetzt überall die Rede. Es ist wohl eher die Angst der Eltern. Die Kinder fragen. Und brauchen Antworten, auf die wir keine haben.
Ertappe mich, die Bilder und Überschriften auf ksta, spiegel, twitter, facebook, wegzustieren, komme mir voyeuristisch vor und zwinge mich, Essays und Analysen zu lesen. Spreche mit einem Professor, der zur Medienpropaganda in Russland forscht und erklärt, wie Putin den Krieg mit Medienpropaganda zehn Jahre lang vorbereitet hat, mit einem Kölner Ukrainer, dessen Vater in Kiew ist, chatte mit einem Schauspieler, der in der Westukraine in einem Keller hockt, er vergleicht Putin mit Hitler, mit wem hast Du gesprochen?, fragt die Jüngste, für die Arbeit, netter Kerl, Schauspieler!, sage ich, sollen wir was malen, oder Carcassonne spielen? Lieber rausgehen, hüpfen, Saltos machen auf dem Trampolin.
Putin hat Sorgen in Abermillionen Köpfe gepflanzt
Ein Mensch, für manche bis neulich ein „lupenreiner Demokrat“, hat es geschafft, die Sorgen in Abermillionen Köpfe zu pflanzen, jedes Bild, jeder Text, jede Analyse über die Gefahr eines Atomschlags lässt die Ängste tiefere Wurzeln schlagen, bis sie starr sind und die Sinne vernebeln, zu viele Forderungen, zu viele Gewissheiten, zu viele Emotionen, die falsche Entscheidungen wahrscheinlicher machen. Every word has consequences, every silence too schrieb Sartre. Ruhig ist niemand mehr.
Wir waren Bundestrainer, wir waren Papst, jetzt sind wir Kanzler, Befehlshaber, ukrainischer Präsident, Flüchtling, blau und gelb, gepudert und geschminkt. Wir rücken zusammen. Wir spüren uns wieder. Nice. Nice. like.like.
Was wir tun können? Spenden, schreiben, ein kleines Bier trinken
Beim Abendessen reden wir über Ostern und den Sommerurlaub, Haushalt, Rechnungen, wer kauft morgen ein; als die Kinder im Bett sind, geht es um die Frage, was wir tun können; erstmal was spenden, Geld und Sachen, Nachrichten gucken, schreiben, ein kleines Bier.
An Tag vier freut sich der Pazifist über Waffenlieferungen, der bis neulich als windig geltende Selenskyj ist längst der größte Held der Welt, 100 Milliarden mehr für die Bundeswehr, warum nicht, Habeck sagt, dass man die Laufzeit der Atomkraftwerke und Kohlekraftwerke verlängern könnte, keine Widerrede, ein paar Stunden später brennt es an einem ukrainischen Atomkraftwerk, die Russen haben mindestens zwei Kraftwerke eingenommen.
Van der Leyen meint, die Ukraine gehöre in die EU, Scholz nennt es Zeitenwende, eine Bekannte meint, jetzt müsse endlich die Nato eingreifen. Entscheidungshagel, Meinungshagel Gewissheitshagel. Und ein geschichtsrevisionistischer, depressiver und tief beleidigter Diktator bombt uns täglich tiefer zurück ins 20. Jahrhundert.
Ein Osterhase, der Frieden zaubern kann
Morgen ist Schule, Arbeit, wieder viel Sonne, der Himmel blau-gelb wie die Menschen, die die Zeitenwende atmen, in hastigen Zügen, gratis nach Deutschland, das ehemalige Aupair eines Freundes hockt mit ihrer gerade geborenen Tochter in einem Bunker in Charkiw, sie ist seit ein paar Tagen nicht mehr erreichbar, Köln demonstriert verkleidet für den Frieden, bekannte Journalisten schreiben öffentlich von ihrer Angst vor einem Atomschlag, Raketenangriff auf ein Krankenhaus in Charkiw, meine Mutter sieht wieder die Bilder vom Krieg, dem toten Bruder, dem toten Vater, die Jüngste malt ein Bild von einem Osterhasen, der Frieden zaubern kann, morgen will sie „einen anderen Präsidenten malen, einen lachenden“, den der Osterhase herbeizaubert.
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Die Elfjährige kann nicht schlafen, „kann ich nicht aufwachen, und morgen ist der Krieg vorbei?“, fragt sie bang. Es könnte doch sein.
Jeder Morgen beginnt nicht nur mit Sorge vor dem Blick auf die Nachrichtenticker, da ist auch diese Hoffnung, der böse Präsident könnte fort sein, ein lächelnder da, warum nicht, ein Wunder, ein zaubernder Hase, bald ist Ostern, Hoffnung braucht es, Mut und Tatkraft, den die Menschen in der Ukraine haben, die wie der Kölner Schauspieler sagen: wir leben jetzt, für Angst ist keine Zeit.