Mehr als acht Milliarden Menschen leben auf der Erde. Bei manchen schürt diese Zahl Ängste. Doch die wachsende Bevölkerung ist nicht der entscheidende Faktor für die Klimakrise, den Verbrauch von Ressourcen und alternde Gesellschaften, betont eine Expertin.
Klima, Ernährung„Diskussion über Weltbevölkerung lenken von wirklichen Problemen ab“
Jeden Tag zaubern weltweit etliche Neugeborene ihren Eltern ein Lächeln ins Gesicht. Die Weltbevölkerung wächst weiter, inzwischen sind wir mehr als acht Milliarden Menschen auf der Erde. Doch nicht für alle ist das ein Grund zur Freude.
Der britische Ökonom Thomas Malthus schürte schon Anfang des 19. Jahrhunderts Ängste vor einer Überbevölkerung. Er sagte, das Bevölkerungswachstum übersteige irgendwann unweigerlich die verfügbaren Ressourcen auf der Erde – bis Hungersnot und andere Katastrophen die Zahl der Menschen wieder reduzierten. Auch für den 1926 geborenen, britischen Naturforscher David Attenborough ist eine Begrenzung des Wachstums essenziell: Er befürchtet sonst eine Überbevölkerung mit fatalen Folgen für die Umwelt.
Vor allem in Europa beschäftigt viele Länder dagegen nicht eine Überbevölkerung, sondern die Angst vor einer Unterbevölkerung durch den demografischen Wandel. Sprich: Die Bevölkerung wird älter und verringert sich. Europa ist die einzige Weltregion, in der die Gesamtbevölkerung voraussichtlich schon in den nächsten Jahren schrumpfen wird.
Die Angst vor wirtschaftlichen Schäden ist groß. Einige Länder ergreifen bereits Maßnahmen, um die Geburtenrate zu steigern: Italien benannte im vergangenen Jahr etwa das Familienministerium in „Ministerium für Familie, Geburtenrate und Gleichberechtigung“ um. Das Land will damit die „demografische Eiszeit“ bekämpfen, wie es Ministerpräsidentin Giorgia Meloni formulierte.
Gibt es zu viele oder zu wenige Menschen?
„Wir müssen überdenken, wie wir über Bevölkerung reden“, sagte die UNFPA-Exekutivdirektorin Natalia Kanem dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Denn Ängste vor Über- und Unterbevölkerung dominierten zu sehr – das spiegelt auch der jüngst veröffentlichte diesjährige Weltbevölkerungsbericht des Weltbevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) wider.
Je nach befragtem Land gaben zwischen 47 Prozent und 76 Prozent der Menschen an, dass die Geburtenrate auf der Welt ihrer Meinung nach zu groß sei. Das geht aus einer im Bericht zitierten repräsentativen Umfrage der UNFPA und YouGov aus dem Jahr 2022 hervor. Seltener waren Menschen der Ansicht, es werden zu wenige Menschen geboren – aber gerade in Japan und Ungarn, die sehr niedrige Geburtenraten aufweisen, hielten die Mehrheit der Erwachsenen die heimischen Fertilitätsraten für zu gering.
Viele Ängste seien auf Mythen zurückzuführen, in denen eine Anpassung der Geburtenrate die Lösung für globale Probleme und Herausforderungen wie die Klimakrise oder die alternde Gesellschaft ist. Zu hohe Treibhausgasemissionen? Dann braucht es weniger Menschen, heißt es – schließlich hinterlasse jeder weitere Mensch einen zusätzlichen ökologischen Fußabdruck auf der Welt.
Die Bevölkerung wird kleiner und älter? Na dann los: Wir brauchen mehr Nachwuchs, damit mehr Erwerbstätige die Renten der Menschen im Ruhestand finanzieren, so die in vielen Ländern verbreitete Botschaft. Dabei ist eine Anpassung der Geburtenrate nicht die Lösung für diese Probleme, sagt UNFPA-Exekutivdirektorin Natalia Kanem. „Die ständigen Diskussionen über zu viele oder zu wenige Menschen auf der Welt lenken von den eigentlichen Problemen ab.“
Allen voran verschleiern derartige Debatten die Situation der Hauptakteurinnen bei der Geburt: der Frauen. „Nicht einmal die Hälfte aller Frauen hat weltweit die Entscheidungsfreiheit über ihren Körper und darüber, mit wem sie Sex haben will oder ob sie verhüten will. Das ist ein Desaster“, sagt Kanem. Folglich sind fast die Hälfte aller Schwangerschaften weltweit unbeabsichtigt. Gerade in Ländern mit hohen Geburtenraten wird Frauen obendrein kaum Zugang zu Bildung ermöglicht – und damit die Chance genommen, über Sex und Verhütung aufgeklärt zu werden.
Auch in manchen Ländern mit vergleichsweise geringer Geburtenrate werden die Rechte von Frauen hinsichtlich der sexuellen Selbstbestimmung eingeschränkt. Erst im vergangenen Jahr nahm das Oberste Gericht in den USA den Frauen die Kontrolle über ihren Körper: Das fast 50 Jahre alte Recht auf Schwangerschaftsabbruch wurde gekippt. Und auch in Diskussionen über eine höhere Geburtenrate als Mittel gegen den demografischen Wandel wird in vielen Ländern oft nicht darüber geredet, dass Schwangerschaft eine Wahl sein sollte, so Kanem. „Frauenkörper dürfen nicht in Geiselhaft gehalten werden, um Bevölkerungsziele der Regierungen zu erfüllen.“
Weltbevölkerungsfonds der Vereinten Nationen: Lieber Frauen auf dem Arbeitsmarkt stärken
Obendrein ist eine höhere Geburtenrate laut UNFPA keine Lösung für Länder mit alternden Bevölkerungen. Inzwischen leben zwei Drittel der Menschen in Ländern, in denen eine Frau im Schnitt weniger als 2,1 Kinder in ihrem Leben bekommt. Die Geburtenziffer 2,1 gilt als Marke, bei der die Bevölkerungszahl gehalten werden kann. In Ländern mit einer Geburtenrate unter diesem Wert herrscht die Angst, an Wirtschaftskraft und Wohlstand zu verlieren, weil die Bevölkerung älter wird und es folglich mehr Rentnerinnen und Rentner gibt, gleichzeitig aber weniger jüngere Menschen, die die Renten finanzieren.
Doch „wenn man beispielsweise auf eine alternde Bevölkerung reagiert, indem man die Menschen dazu ermutigt, mehr Kinder zu bekommen, ignoriert man die Tatsache, dass dies kurzfristig weder den Arbeitskräftemangel noch die Rentenlast verringert, sondern dass dies sogar den Bedarf an anderen großen Investitionen wie Bildung erhöhen wird, lange bevor die Babys produktive, steuerzahlende Arbeitskräfte werden“, betont der UNFPA im Bericht. UN-Studien zufolge könne dagegen eine Stärkung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt deutlich mehr wirtschaftlichen Auftrieb verleihen als eine höhere Geburtenrate.
Klimakrise: Das Problem ist nicht Überbevölkerung, sondern Überkonsum
Auch hinsichtlich der Klimakrise ist ein Fokus auf die Geburtenrate nach Ansicht der UNFPA der falsche Ansatz, um sie zu bekämpfen. Denn das Problem sei nicht Überbevölkerung, sondern Überkonsum. „Länder mit hohen Geburtsraten tragen im Schnitt am wenigsten zur Klimakrise bei, sagt Kanem, „doch trotzdem richtet sich bei der Klimakrise der Blick auf sie und ihr Bevölkerungswachstum – und nicht auf die 10 Prozent der Weltbevölkerung, die die Hälfte der Treibhausgasemissionen verursacht.“
Gerade in Ländern südlich der Sahara gebären Frauen in ihrem Leben viele Kinder – in Nigeria sind es im Schnitt fünf. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas liegt damit bei der Geburtenrate deutlich über Ländern wie Deutschland, hat zudem zweieinhalbmal so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie hierzulande.
Gleichzeitig leben dort sehr viele Menschen in Armut, die folglich nur wenig konsumieren und CO₂-Emissionen verursachen. Menschen in wohlhabenden Ländern leben dagegen klimaschädlicher, reisen zum Beispiel häufig mit dem Flugzeug. Ein Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und zu viel Konsum ist beim Thema Klimakrise laut Kanem daher unangebracht.
Geburtenrate ist keine Lösung für die Probleme unserer Zeit
Eine geringe Geburtenrate ist gleichzeitig nicht die Lösung für den Umgang mit dem globalen Ressourcenmangel. Vielmehr weisen Länder mit einer Debatte über eine Überbevölkerung Verantwortung von sich, wie Kanem betont. „Es geht nicht um endliche Ressourcen, es geht darum, wie sie verteilt sind. Es gibt eine Vielzahl an Ressourcen in der Welt, die wir gerechter verteilen könnten.“
Sprich: Die wohlhabendsten Länder haben Nahrung im Überfluss, unzählige Menschen in armen Ländern leiden dagegen noch immer unter Nahrungsmittel- und Energieknappheit.
Das Bevölkerungswachstum ist damit weder das Problem noch die Lösung für Klimakrise, alternde Gesellschaften und Ressourcenmangel.
Die Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit liegen laut Kanem dagegen vor allem in einer gerechteren Verteilung von Ressourcen und einer menschenrechtsorientierten Politik, die den weiblichen Körper nicht zum Instrument macht, um eine bestimmte Geburtenrate zu erreichen. „Wenn wir über die Bevölkerungsgröße diskutieren, schauen wir immer auf die Frau: Sollte sie mehr Kinder bekommen oder weniger? Schwangerschaft muss aber eine freie Entscheidung sein, die jede Frau treffen darf“, betont Kanem.